Die Stadt Osterode, die nun unsere Heimat wurde, hat eine günstige Lage. Zwischen zwei Seen, dem Drewenz- und dem Pausensee, sich weit hinstreckend, von dem Drewenzflusse durchflossen, ist die Stadt auf sanft sich erhebenden Hügeln und in den Niederungen zwischen jenen aufgebaut, sodass ihre Straßen ansteigen und sich senken und man von den höheren Punkten einen freundlichen Blick über die tiefer liegenden Teile genießt. Besonders ruht das Auge mit Entzücken auf dem Drewenzsee mit seinen Einbuchtungen und seinen bewaldeten Ufern, wenn man sich in Straßen befindet oder auf Plätzen, die einen freieren Blick gewähren. Wer auf der Uferpromenade wandert und hinüberschaut nach Winchertsruh und dem Stadtpark und dem Walde bei Grünortspitze, wird immer wieder von der Schönheit des Bildes ergriffen werden, ob dunkler Himmel sich über dem Wasser wölbt oder die helle Sonne lacht, ob er bei Sonnenuntergang die wechselnden Beleuchtungen beobachtet oder am frühen Morgen die wallenden Nebel aus den Fluten auftauchen sieht. Unter den Häusern der Stadt, die dereinst im 13. Jahrhundert zur Zeit der Herrschaft des deutschen Ritterordens gegründet worden ist, ragten durch Größe und Bedeutung vor anderen hervor das Schloss, die alte Komturei, das Rathaus, die evangelische und die katholische Kirche, das Königliche Seminar, das Schulhaus für die neue Schule und einige wenige Privatgebäude. Im Ganzen waren, zumal in der ersten Zeit unseres Dortseins, die Häuser der Stadt unansehnlich und zum Teil in sehr schlechtem baulichem Zustand, was einen besonderen Grund hatte. Die Stadt war im Jahre 1788 am 21. Juli bis auf wenige Häuser durch eine furchtbare Feuersbrunst vernichtet worden, und der Neubau der Häuser hatte mit geringen Mitteln erfolgen müssen, sodass niedrig und dürftig gebaut wurde. Als wir im Frühjahr 1877 nach Osterode kamen, hatte die Stadt etwa 5000 Einwohner, als wir 1910 die Stadt verließen, war ihre Zahl auf 15000 gestiegen. Namentlich als Osterode Garnison erhielt und ein ganzes Regiment und ein Bataillon in die Stadt gelegt wurde, nahm die Einwohnerzahl schnell zu, da nun Kaufleute und Handwerker besseren und sicheren Verdienst erhielten. In den 33 Jahren, die wir in Osterode zugebracht haben, hat die Stadt ihr Aussehen ganz und gar geändert, sodass der Ort, der früher einen ärmlichen und schmutzigen Charakter zeigte, sich zu einer freundlichen und sauberen Landstadt entwickelt hat, eine Folge vor allen Dingen der unermüdlichen Tätigkeit des Bürgermeisters Elwenspoer, der in jeder Weise die Stadt zu heben bemüht gewesen ist.“
Die damals fünfköpfige Familie bezog eine geräumige Dienstwohnung im östlichen Anbau desselben mächtig großen Hauses, in welchem die neu gegründete Schule ihr Heim hatte. Hier wurden 1877 der Sohn Fritz, dann 1879 und 1880 die Töchter Therese und Dorothea geboren. Und hier erblickte Lenchen als Jüngste 1889 das Licht der Familien- und dann der größeren Welt.
Umgeben von Papieren und Büchern hatte Lene sich noch nie allein gefühlt. Auch jetzt in Hamburg nicht. Nein, das Leben war noch nicht vorbei, sondern voller unerledigter Aufgaben. Da lag die Tageszeitung, das neue Merian-Heft, der aufgeschlagene Artikel zu den Eigenheiten und Charakteristiken ostpreußischer Stadtanlagen, der Artikel zur Frauenbewegung, und im Hintergrund der Stapel alter Briefe. Die hatte sie sich vorhin herausgesucht. Obenauf ein vergilbter Umschlag mit der sorgfältigen, ordentlichen, aber ausgeschriebenen Lehrer-Schnellschrift ihres Vaters. Wie sich die Familie in Osterode wohlfühlte, wurde nicht nur in der Chronik, sondern auch in diesem Brief ihres Vaters deutlich. Und hier zeigte sich, - anders als in der Chronik -, eine ungemein sympathische Seite des Vaters, nämlich seine Liebe zur Familie, zu seinen Kindern.
Behutsam strich Lene mit den Fingern darüber, zog das dünne Papier aus dem Umschlag. Ihr Vaters, Ernst Leberecht Wüst, schrieb an seine Mutter Paulina Mathilda, also Lenes Großmutter. Ein Brief von 1893, mitten aus dem Leben ihres Vaters heraus. Er war damals 49, seine Mutter 83 Jahre, sie selbst, Lenchen, vier Jahre alt.
Eine wohl später notierte Bemerkung oben drüber lautete:
der letzte Brief, den ich an meine Mutter geschrieben
Osterode, den 11. Juni 1893
Meine liebe Mama!
Sonntag-Morgen. Die Kinder sind teils im Walde, teils im Garten, ich sitze bei offenen Fenstern, und wenn ich hinausblicke auf die rotblühenden jetzt schon ganz stattlichen Kastanienbäume, die grünen Hecken und dahinter auf den von Wald bekränzten See, dann
Kommt es wie Freude über einen, und man ist fast versucht zu glauben, dass das Gezwitscher der unzähligen Schwalben Glück verkündigt und heitere Zukunft. Aber es wird Dich mehr interessieren, wenn ich Dir Gegenwärtiges berichte. Lenchen ist nun schon wieder auf, freilich recht elend und schwach auf den Beinen, also dass sie zu rüstigem Schreiten sich unfähig fühlt, doch unzweifelhaft auf dem Wege der Besserung. Dorchen, im übrigen flink wie ein Wiesel, ist das alte Piepsküken, seit Ostern Schülerin der ersten (also obersten) Klasse, schließt Freundschaften und fährt, da ihre „beste“ Freundin so verständig ist ein Ponyfuhrwerk zu besitzen, fast täglich in den Wald. Fritz feilt und schlossert nach wie vor, geht zum Konfirmandenunterricht und soll zum Herbst eingesegnet werden. Die beiden großen Töchter machen sich in der Wirtschaft nützlich und denken, wenn sie dazu Zeit haben, darüber nach, wie sie als alte Jungfern ihr Leben fristen werden. Enn, der Krieger, malt augenblicklich im Walde, hat sonst ziemlich viel Dienst, wird zum 1. Juli Unteroffizier werden und thut im übrigen Schritte, um am 1. Oktober irgendwo eine Stelle zu erhalten. Und wir, die Alten? So wie ein Stoppelfeld, über das im Herbste die kalten Nordwinde fegen, sich ausbreitet, ab und zu mahnen späte Blumen und grüne Halme noch an den Sommer – also wir und unsere Stimmung. Aber der Vergleich hinkt wie alle Vergleiche. Euch aber in Danzig und Dir, liebste Mama; in Sonderheit, geht es hoffentlich gut. Mit dieser Hoffnung und den herzlichsten Grüßen von uns allen an alle, Dein dankbarer
Ernst Leberecht
Lene sah auf. Das herbstgelbe Laub der Ahornbäume im Park glänzte, noch nass vom Regenschauer, in den Strahlen der Abendsonne. Der Verkehrslärm schallte gedämpft herauf, das Bimmeln der Straßenbahn, dann wieder die eilig aufheulende Sirene eines Krankenwagens, der mit Blaulicht in die Krankenhauseinfahrt lenkte.
Die Geschwister, ja, sie lächelte in Gedanken, die waren wie eine Art Girlande, die ihr eigenes Lebensgewebe immer umschlungen hielt. Kitschig so ein Vergleich, der, wie der in Vaters Brief, natürlich auch hinkte, aber doch Wahres enthielt. Sie selbst fühlte sich mittendrin in dieser Girlande. Oder, als Jüngste, an deren Ende?
Als Vater jenen Brief schrieb und sie selbst vier Jahre alt war, da war von Dore, dem „Piepsküken“ die Rede, damals schon stolze 13 Jahre alt. Therese, 14 Jahre, wurde aus irgendwelchen Gründen ausgelassen. Sicher gab es von ihr gerade nichts Bemerkenswertes zu berichten. Vergessen hatte Papa sie bestimmt nicht. Fritz war 16 Jahre, die beiden großen Schwestern Martha und Lotte 18 und 19 Jahre alt. Ernst, der Älteste, zählte sogar bereits 22 Jahre. Schon damals malte er in jeder freien Minute, wenn er nicht gerade wie ein Weltmeister turnte, ritt oder schwamm. Ernst konnte anscheinend alles. Er hatte in Stettin eine Kaufmannslehre absolviert und war Angestellter einer Hamburger Kaufmannsfirma, hatte aber zwischendurch auch Kriegsdienste geleistet. Lotte, ebenso bewundernswert, hatte 1888, 14jährig, schon die Schule beendet, war ein Jahr lang zu Hause geblieben, hatte gerade die Geburt ihrer jüngsten Schwester miterlebt und war dann vier Jahre lang als Haushaltshilfe mit einer russischen Familie nach Bialystok gegangen. Nach dem Brief zu urteilen, war sie 1893 wieder zu Hause.
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