Mutters innere, unsichtbare Geheimnisse, ja, die gab es, davon war Lenchen allmählich überzeugt. Aber die saßen nicht in Mutters Kopf, sondern in ihren flinken Fingern.
Anscheinend hatte sie, 1952 also, lange mit der Enkelin auf der Chaiselongue gesessen. Ein so besonderes Sofa war gut für Gedanken, für Spurensuche, für Begegnungen alter und junger Zeiten. Gut zum Erzählen, Zuhören, Fragen und Antworten, auch wenn die Enkelin nicht sofort alles verstand.
Und deine Brüder? So hatte das Kind gefragt. Kleine Brüder gehörten zum Leben, anders wusste die Enkelin es nicht.
Davon ein andermal, hatte sie geantwortet, wir haben doch Zeit, wir beide. Die Enkelin war dicht neben ihr gewesen, hatte den rauen Karo-Wollstoff des Großmutterkleides gespürt, den leichten Mottenduft der Pelzweste, den Großmutter-Atem über ihren hellen Rattenschwänzchen. Aber gleichzeitig war diese Großmutter selbst doch weit in die Vergangenheit gerutscht. Außen und innen, das gab es inzwischen auch bei ihr. Eines Tages würde sie der Kleinen, die dann groß genug war, davon erzählen. Eine alte, wieder neue Geschichte. Die Enkelin war nicht ganz so dicht dran wie ihre inzwischen erwachsenen Kinder Georg und Hanna.
Aber jetzt saß sie, die inzwischen Gromo hieß, erstmal wieder an dem alten Schreibtisch in der Fensterecke. Und während sie auf die sehnige Faltenhaut ihrer Hände blickte, die blau hervortretenden Adern, die vielen Leberflecke, wusste sie, dass dieser Schreibtisch jedenfalls einer ihrer Lebensmittelpunkte war. Hier liefen alle Zeitenlinien zusammen. Das Früher, das noch Frühere, das Heute, das Zukünftige sicher auch. Dafür sorgte sie ja täglich, indem sie sich hier ausruhte, hier Altes und Neues sortierte. Ihre Finger strichen behutsam, fast zärtlich, über alte Papiere. Unwillkürlich neigte sie den Kopf darüber.
Woher kam der Gedanke, das Leben als ein wechselnd feines und grobes Gewebe zu betrachten, kompliziert gemustert, an einigen Stellen leuchtend farbig, anderswo verblichen, fast eingerissen, wieder geflickt, neu zusammengefügt und in anderem Muster fortgesetzt, neue Stränge in alte hinein gewebt, verschlungen und verhakt, nie erwartet, überraschend bunt geraten, zum Weiterarbeiten bereitgelegt? Konnte sie jetzt, nach so vielen Jahren anfangen, die Teile zu betrachten, neu zu ordnen, zusammen zu fügen?
Der erste Haltestrang, war das der Schreibtisch ihres Vaters? Nein, der bildete viel eher eine Art Knotenpunkt, eine Schaltstelle in der Mitte. Das davon ausgehende erste Anfangsmuster, das waren natürlich ihr Vater selbst und ihre Mutter. Mama und Papa, ja, wenn sie noch weiter zurückdenken könnte, hatte es auch mit denen irgendwann einmal angefangen. Und davon gab es doch noch Spuren in einer der Schubladen des Schreibtisches. Und in ihrem Kopf natürlich.
Das leise Knarren der Zimmertür. Sie wandte den Kopf.
„Ach, du bist es. Schon Abend? Zeit zum Essen?“
Das gemütliche, rauchige Lachen aus der Kehle heraus. „Aha, sitzt du wieder am Schreibtisch fest?“
Ihr Vater hieß Ernst Leberecht Wüst. Dieser Name hatte, wie Papa erzählte, oft zu Scherzen Anlass gegeben, indem es in „Ernst, lebe recht wüst“ gewandelt worden war. Das konnte allerdings von seinem Leben keineswegs behauptet werden, soviel Lene inzwischen wusste. Nein, „wüst“ hatte der Vater höchstens ab und zu in Studentenzeiten gelebt in Jena und Berlin, jedoch nicht anders als andere Studenten seiner Zeit. Davon erzählte er aber nicht, sondern davon berichtete nur die von ihm verfasste Familien-Chronik. Geboren wurde er am 6. Dezember 1844 in Pröbbernau auf der schmalen Nehrung am Frischen Haff. Dort war sein Vater Pfarrer, seine Mutter stand dem großen Haushalt vor. Ernst wuchs unter 10 Geschwistern auf.
Von Lenes Mutter gab es keine von ihr verfasste Chronik. Sie wurde am 13. Juli 1851 als Martha Louise Charlotte Goldnick in der Mühle Slupp geboren. Sowohl ihr Vater, der Mühlenbesitzer, als auch die Mutter waren zweimal verheiratet, Martha hatte eigentlich fünf Geschwister und fünf Halbgeschwister, die aber fast alle sehr früh starben. Die Mühle Slupp in der Nähe des Gutes Orle liegt an der Ossa, einem rechten Nebenfluss der Weichsel östlich von Graudenz.
Wie Ernst und Martha sich kennenlernten und ihr Leben sich dadurch in eine gemeinsame Richtung lenkte, davon schrieb Vater selbst in der Familienchronik, die er später in Jena verfasste.
Nach kurzer Zeit hielt Lene die dicke Mappe in der Hand. Ihr Vater Ernst Leberecht Wüst schrieb da:
„ Zu Beginn des Winterhalbjahres 1865/66 siedelte ich von Jena nach Berlin über…
Für mein ganzes Leben bedeutungsvoll wurde im Sommer 1867 ein Besuch einer Freundin des Orler Hauses in Berlin, der Frau Gutsbesitzerin Goldnick aus Mühle Slupp bei Graudenz, die mit ihrer Tochter Martha, damals 16jährig, gekommen war, um einen Arzt um Rat zu fragen. Ich war mehrere Tage der beständige Begleiter der beiden Damen, machte mit ihnen Besorgungen, führte sie zu Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten und eines abends auch ins Königliche Opernhaus. Da war es, als wir beiden jungen Menschen während einer Ballett-Aufführung nebeneinander sitzend, uns bei der Hand fassten, um uns für alle Zukunft nicht wieder loszulassen. Es lag ein köstlicher Reiz darin, die Heimlichkeit unserer Liebe zu bewahren und keinem von unserem Verspruch etwas zu sagen. Erst im Herbst desselben Jahres 1867 bei der Hochzeit meiner Schwester Auguste, die in Orle stattfand, merkten schärfer blickende Verwandten, was die Glocke geschlagen, und es fehlte in der nächsten Zeit nicht an solchen, die mahnten und Vorstellungen machten und Ratschläge erteilten und drohten. Was sollte auch ein Einverständnis zwischen einem noch die Schule besuchenden Mädchen und einem Studenten bedeuten? War es überhaupt ernst zu nehmen? Wir aber, die wir uns einmal die Treue versprochen hatten, hielten fest, kümmerten uns nicht viel um das Gerede der lieben Verwandten, schrieben uns gute und liebe Briefe und warteten, bis die Zeit sich erfüllen musste…
Das dauerte eine gute Zeit. Durch den Krieg 1866 war Ernst nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Er meldete sich zwar, als die Einberufung erfolgte, wurde aber wegen seiner mangelnden Sehtüchtigkeit zurückgewiesen. Auch als Krankenpfleger wollte man auf ihn verzichten. Im Herbst 1867 tauschte er die Universität Berlin mit der zu Königsberg zum Abschluss seiner Studien und um dort später eine Anstellung zu erhalten. Es war sein viertes Universitätsjahr. Auf den Abschluss seines philologischen Staatsexamens bereitete er sich in Königsberg und auch in Güttland vor, wo sein Vater seit 1850 Pfarrer war und er selbst den größten Teil seiner Jugendjahre verbracht hatte. Sein Vater, der Pfarrer mit seiner Familie hatte sich aus Pröbbernau versetzen lassen, um den Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Im Oktober 1868 legte Ernst die Prüfungen ab und erhielt die Lehrbefähigung für Lateinisch und Griechisch für alle Klassen und für Geschichte und Erdkunde für die Obersekunda einschließlich, zugesprochen. Er promovierte zum „doctor philosophiae“. Sein Probejahr leistete er anschließend auf der Realschule I. Ordnung auf der Burg zu Königsberg, der „Burgschule“. Weihnachten 1868 verlobte er sich endlich offiziell mit seiner Martha. Während die Brautleute einen glücklichen Sommer in der Mühle Slupp verbrachten, brach 1870 der Deutsch-Französische Krieg aus. Ernst eilte nach Königsberg, um sich freiwillig zu stellen, wurde aber wieder wegen seiner Kurzsichtigkeit abgewiesen. So ging er weiter seinem Beruf nach. Auch von dem Erleben der Kriegsereignisse berichtet die Chronik. Aber das war eine andere Geschichte. Ernst und Martha schauten mutig und zuversichtlich in die Zukunft: am 11. Oktober 1870 fand die Hochzeit statt.
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