„Einmal um den Block?“, fragte er.
Sarah nickte, nahm ihrerseits ihre Jacke von dem Garderobenständer und folgte ihrem Partner auf den Flur. Den Weg zum Aufzug und die Fahrt ins Erdgeschoss brachten sie schweigend hinter sich, auch als sie nebeneinander bis zum Haupteingang gingen, sagte keiner ein Wort. Erst als sie durch die Glastür in die strenge Kälte getreten waren, begann Sarah ein Gespräch.
„Ich weiß nicht, wie es dir ergangen ist, aber das, was dieser Mann in der Kutte in dem Video veranstaltet hat, ist widerlich pervers.“
Sie zog die fellbesetzte Kapuze enger.
Thomas sah sie von der Seite an und meinte dann:
„Ja, das war abscheulich. Aber du hast doch bei deinem letzten Fall in Husum auch Schreckliches gesehen? Und das sogar in Realität und nicht auf Video?“
Sarah hatte sich schon gedacht, dass er, bevor sie vor einem halben Jahr nach Freiburg wechselte, genau studiert hatte, was sie zuvor im Norden gemacht hatte. Folglich waren ihm die Details ihres letzten Falls bestens bekannt.
„Ja, allerdings habe ich da ja lediglich die Bilder der Leichen gesehen, und nicht live mitverfolgen können, wie der Täter seinen Opfern diese schrecklichen Dinge angetan hat.“
„Nun, zu dem Mord ist es diesmal Gott sei Dank nicht gekommen“, sagte Thomas. „Aber du hast Recht, ich habe mir die ganze Zeit über verschiedene Fragen gestellt: Was geht in diesem Kopf vor? Was hat das Mädchen mitbekommen? Was nimmt er noch für Handlungen vor, vor allem auch sexueller Natur? Schließlich kann bei solchen Opferungen die Sexualität eine entscheidende Rolle einnehmen. Immerhin wissen wir, dass das Mädchen nicht oder zumindest nicht im Sinne der ursprünglichen Definition missbraucht wurde. Trotzdem hat mich die Art, wie er den Dolch geführt hat, an pervers-sexuelle Handlungen erinnert.“
Sarah hob den Blick und sah in Thomas‘ sorgenvolles, nachdenkliches Gesicht.
„Du hast dir auch ausgemalt, was passiert wäre, wenn es sich nicht um eine Art Übung gehandelt hätte, sondern die tatsächliche Opferungszeremonie?“
„Allerdings“, antwortete er. „Stell dir vor, er hätte all die Bewegungen mit der scharfen Seite des Messers vollführt. Nicht nur, dass er Arme, Beine, Hände und Füße geritzt hätte. Möglicherweise hätte er auch gezielt Verstümmelungen vorgenommen. Nach diesem Video mag ich mir nicht im Ansatz vorstellen, vor welch schrecklichen Taten das arme Mädchen sich selbst gerettet hat. Ich habe nämlich eine Befürchtung.“
„Und die wäre?“, fragte Sarah, da Thomas nicht von sich aus fortfuhr.
„Das Mädchen war nicht festgeschnallt, sondern betäubt. Wir wissen, dass er die Opferung sozusagen im Leerlauf durchgespielt hat. Ich befürchte, dass er bei dem finalen Akt auf eine Betäubung verzichtet und sie stattdessen mit den Lederriemen fixiert hätte. Immerhin, so die Fachliteratur, zieht ein sadistisch veranlagter Täter einen sehr großen Teil seines Thrills und seiner Befriedigung aus der Reaktion des Opfers. Die Todesangst in den Augen, das Schreien…“
Sarah schüttelte sich, ihr war ein Schauer übergelaufen.
„Und Gott sei Dank ist ihr die Flucht so rechtzeitig gelungen, dass er sie noch nicht hatte verletzen können.“
Thomas nickte.
„Und wir können einigermaßen sicher sein, dass wir das Schlimmste schon gesehen haben. Egal, was auf den zwei anderen Videos zu sehen ist, er wird ihr nichts angetan haben. Also rein physisch, meine ich. Wobei ich mich wirklich frage, wieso ihr Angriff auf ihn und die anschließende Flucht nicht zu sehen war. Es war das letzte Video auf der Kamera.“
„Vielleicht hat er nochmal geübt und dabei vergessen, die Kamera einzuschalten?“, mutmaßte Sarah.
„Das scheint mir im Moment die einzig logische Erklärung zu sein“, pflichtete Thomas ihr bei. „Komm, lass uns an der Tankstelle einen Snack holen und dann die Videos weiter durchsehen. Ich bin froh, wenn wir das hinter uns haben.“
„ Herein, herein“, empfing Dr. SchwarzSarah und Thomas an seiner Bürotür, hielt diese offen und wies mit der anderen Hand auf die Ledersessel vor seinem Schreibtisch. „Ich dachte mir schon irgendwie, dass Sie heute bei mir vorbeischauen würden. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee? Ein bisschen was Stärkeres, bevor wir in den Obduktionsraum gehen?“
„Kaffee“, brummte Thomas, während Sarah im Anschluss höflich um einen Tee bat. Die Polizisten setzten sich, Schwarz hob den Hörer vom Apparat, bestellte bei seiner Sekretärin zwei Kaffee und – nachdem er sich bei Sarah erkundigt hatte – einen Roibush-Vanille-Tee. Dann umrundete er den Schreibtisch und nahm ebenfalls Platz.
„Sie hatten ja sicher eine ähnlich kurze Nacht wie ich, deswegen verstehen Sie bestimmt“, sein Blick blieb auf Thomas haften, „dass ich den übel zugerichteten Herrn, den Sie gestern aufgetan haben, noch nicht unters Messer genommen habe. Doch wie ich Sie kenne, wollen Sie ohnehin erst einmal über das Mädchen sprechen, habe ich Recht?“
„Da liegt unser Fokus, genau“, antwortete Sarahs Partner. „Dass das Mädchen sich in der Gewalt des Toten befunden haben muss, ist durch die Indizien hinreichend, durch die Blutanalysen und DNA-Vergleiche eindeutig belegt. Wir haben eine einigermaßen genaue Vorstellung, was gestern Abend passiert ist und gehen auch davon aus, dass sie es war, die ihren Peiniger in Notwehr getötet hat. Hier können Sie uns vielleicht später Gewissheit verschaffen. Wir haben die Waffe, die das Mädchen bei sich führte, mitgebracht.“
„Fall gelöst!“, witzelte Schwarz, stand auf, ging zu dem Buffet, das rechts von seinem Schreibtisch stand und kam mit einer Flasche Dalwhinnie und drei Nosing-Gläsern zurück.
„Auch ein Schlückchen?“, bot er an und reichte, während Thomas angewidert das Gesicht verzog, Sarah den Whisky, die das Etikett neugierig begutachtete. Schwarz freute sich wie ein kleines Kind, als sie nickte und mit zwei Fingern andeutete, dass der Dram aber klein ausfallen sollte.
Schwarz goss ein, verstöpselte den Single Malt und stellte die Flasche zurück. Natürlich war dem Rechtsmediziner klar, dass die Ermittlungen jetzt erst so richtig anliefen und zunächst vordringlich die Identität des unbekannten Mädchens geklärt und das gesamte Umfeld der Ereignisse aufgedeckt werden musste.
„Ich habe gehört, dass Sie Satanisten hinter der Entführung und Beinahe-Opferung vermuten“, warf er deswegen ein. „Haben Sie da schon konkrete Anhaltspunkte?“
Er hob sein Glas an die Nase, um die Düfte, die dem Trinkgefäß entströmten, einzufangen und beobachtete, wie Sarah ihrerseits etwas schüchterner an dem Whisky schnüffelte und dann vorsichtig probierte.
„Ihr erstes Mal? Dafür ist dieser Highland Malt genau das Richtige, er…“
„Ich möchte Sie nur ungern unterbrechen“, grätschte Thomas hinein, der offensichtlich einem ausschweifenden Vortrag über das schottische Nationalgetränk Einhalt gebieten wollte. „Aber Sie fragten gerade nach Anhaltspunkten. Hier sind welche.“
Er reichte dem Rechtsmediziner ein Tablet über den Tisch.
„Nach links wischen.“
Schwarz nahm das Gerät entgegen, setzte sein Glas ab und begann, die Tatortfotos zu studieren. Während er damit beschäftigt war, öffnete sich die Tür und die Sekretärin trat ein, stellte ein Tablett mit Kaffee und Tee sowie einigen Plätzchen auf den Tisch und huschte, ohne ein Wort zu sagen, wieder aus dem Büro.
„Und? Interessant, oder?“, fragte Sarah nach einer Weile der Stille.
„Dasselbe wollte ich Sie in Bezug auf den Dalwhinnie auch gerade fragen“, entgegnete Schwarz. „Aber das hat Zeit. Lassen Sie mich eins vorwegschicken: Wenn Sie eine Abteilung für Okkultismus, Esoterik oder was Ähnliches haben, brauchen Sie diese nicht zu bemühen.“
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