„Hallo Herr Kollege, hier ist Sarah Hansen, Sie sind auf laut“, informierte sie den Kriminaltechniker.
„Hallo Frau Hansen. Ich habe mir gerade die SD-Karte geholt und schau mir den Inhalt auf meinem Laptop an. Moment. Ah, ja. Sind nur drei Files drauf. Ich lege sie euch mal auf den Server, dann könnt ihr sie abgreifen. Habt ihr ein Verzeichnis, wo sie hinsollen?“
Thomas nannte dem Kollegen einen Pfad.
„Okay. Das geht ne Minute oder zwei. Kann ich sonst noch was tun?“
Thomas sah Sarah an, die den Kopf schüttelte.
„Nein, das wars“, sagte er. „Danke dir und schönen Sonntag.“
Er legte den Hörer auf die Gabel.
„Ich bin gespannt, was darauf zu sehen ist“, sagte Sarah, während Thomas immer wieder die Ansicht aktualisierte, bis drei neue Dateien in dem von ihm benannten Ordner aufgetaucht waren.
„Die letzte Datei zuerst?“, fragte er.
Sarah nickte
„Na dann mal los!“
Wie zu erwarten war das Erste, das auf dem Bildschirm zu erkennen war, das unscharfe Gesicht des Unbekannten in Nahaufnahme, der ganz offensichtlich damit beschäftigt war, die Einstellungen der soeben eingeschalteten Kamera zu überprüfen. Nach einigen Sekunden verschwand er aus dem Bild, und noch während der Bildausschnitt von dem offenbar jetzt hinter der Kamera befindlichen Mann angepasst wurde, hatte man schon den Blick auf den furchteinflößenden Altar. Darauf befand sich das rothaarige Mädchen. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, so dass man ihr Gesicht erkennen konnte. Die Augen waren zwar nicht geschlossen, aber ihr Blick ging mit geweiteten Pupillen ins Leere. Offenbar stand sie unter dem Einfluss eines Betäubungsmittels oder einer anderen Droge und befand sich in einer Art Wachtrance. Die Lederriemen, auf denen ihre Hand- und Fußgelenke lagen, waren nicht zugezogen. Sie trug dasselbe weiße Gewand, in dem sie in der Nacht aufgegriffen wurde, nur war es zu diesem Zeitpunkt noch strahlend sauber. Im Hintergrund auf dem Highboard brannten etliche Kerzen unterschiedlicher Größe. Da das Gesicht und der Körper des Mädchens ebenfalls gut ausgeleuchtet erschienen, mussten sich auch diesseits des Altars neben der Kamera eine ganze Batterie von Kerzen befunden haben. Das leichte Flackern der Schatten auf der gegenüberliegenden Wand verriet, dass der Unbekannte auf eine Videoleuchte verzichtet hatte. Jetzt trat er ins Bild. Er trug dieselbe Kutte wie in dem Video auf der DVD und der Dolch steckte ebenfalls vorne im Gürtel. Er nahm eine Position hinter dem Altar ein und stand dort zunächst regungslos mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen.
„Hier wollte er später schneiden“, sagte Sarah.
Thomas nickte kaum merklich. Er blickte voll konzentriert auf den Monitor.
„Siehst du, dass sie nicht gefesselt ist? Die Gelenke liegen nur auf den Lederriemen“, sagte er. „Das erklärt, wie sie es überhaupt schaffen konnte, ihn während oder nach der Zeremonie anzugreifen.“
Er wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Mann in der Kutte zu. Mit einem Mal kam Bewegung in die Szene. Der Unbekannte breitete die Arme aus und stimmte eine Art gregorianischen Gesang an, das Haupt hielt er immer noch gesenkt. Als er den Choral mit einem langen Diminuendo beendet hatte, trat er an das Ende des Opfertischs, nahm den Kopf des Mädchens in beide Hände, so dass seine Finger entlang der Wangen und die Handflächen über dem Kiefergelenk lagen. Obwohl die Szene wahrhaft gruselig war, und Sarah darum betete, dass die junge Frau nichts von alldem mitbekam, schien die Berührung sehr zärtlich, fast liebevoll zu sein. Behutsam dreht der Mann den Kopf der Rothaarigen, bis ihr Gesicht der Decke zugewandt war. Dann murmelte er erneut einige Verse, diesmal in Altgriechisch. Nachdem er verstummt war, legte er seine Stirn auf die des Mädchens und verharrte mindestens eine Minute. Schließlich gab er ihr einen sanften Kuss und nahm danach seine Position hinter dem Altar wieder ein. Abermals ertönte ein Gesang und Sarah fiel jetzt erst auf, dass der Mann über eine sehr schöne Stimme verfügte und die Töne treffsicher hervorbrachte. Als der Choral beendet war, zog der Unbekannte den Dolch und hielt ihn mit der stumpfen Seite der Klinge an den Hals seines Opfers. Er strich damit nach unten, über die linke Brust, den nackten Arm, zurück und über den Bauch in Richtung Schoß. Sarah hielt die Luft an, so sehr verinnerlichte sie, was sie vor sich sah. Es war faszinierend und unsäglich abstoßend zugleich, und als die Klinge in den Genitalbereich des Mädchens wanderte, hielt sie diese entsetzliche Spannung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, schier nicht mehr aus! In ihr tobte der Kampf zwischen dem Wunsch, die Augen zu schließen oder das Video anzuhalten und dem Sog, der sie mitriss und dazu brachte, jedes noch so kleine Detail aufzunehmen, mit den Augen, mit den Fingern, die zu Fäusten verkrampft waren, mit der Luft, die sie atmete! Unfähig sich zu bewegen, unfähig wegzusehen verfolgte sie, wie der Priester, als den sie den Mann nun wahrnahm, mit dem Klingenrücken das Bein des Mädchens herunterfuhr, über den Rücken des nackten Fußes, zurück nach oben, nur um für einen Sekundenbruchteil im Schritt zu verweilen und im Anschluss das andere Bein hinunterzufahren. Das leise Murmeln des Mannes und die unerträglichen, mächtigen Bilder lösten fast einen Schwindel bei Sarah aus! Wie hypnotisiert verfolgte sie, wie das Messer das Bein wieder hinauf, über den Bauch, den Arm, die Brust und den Hals wanderte und er es schließlich mit der Spitze zum Kehlkopf weisend auf ihrem Brustbein ablegte. Er schwang die Kutte zurück, kletterte auf den Altar und setzte sich, fast wie zu einem Geschlechtsakt knapp unterhalb der Hüften auf das Mädchen. Als er die Kutte zurechtgezogen hatte, beugte er sich vor, nahm den Dolch und hob ihn weit nach oben, ging ins Hohlkreuz, schnellte nach vorne und ließ die Waffe auf das Mädchen niedersausen! Sarah zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als das Messer mit einem dumpfen Geräusch in das Holz des Altars schlug – knapp neben dem Hals der Rothaarigen! Der Priester schrie laut, legte seinen Kopf auf der Brust des Mädchens ab und verharrte mehrere Minuten. Schließlich richtete er sich auf, schlug die Kapuze nach hinten und kletterte von dem Altar. Ohne jeglichen Pathos steuerte er die Kamera an und streckte den Arm aus. Unmittelbar danach wurde das Bild schwarz und das Video war zu Ende.
Sarah schnappte nach Luft! Hatte sie die ganze Zeit den Atem angehalten? Erst mit dem einströmenden Sauerstoff nahm sie den Rahmen des Bildschirms wieder wahr, weitete sich ihr Sichtfeld und sie sah den Schreibtisch, das Fenster, ihre Hände mit den Abdrücken ihrer Fingernägel, Thomas, der unbeweglich neben ihr saß. Wie konnte es sein, dass diese schrecklichen Bilder sie derart in den Bann gezogen hatten? Sie blickte zu ihrem Partner. Auch er atmete sehr tief und schien dem eben gesehenen nachzuhängen. Immer wieder schloss er die Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf. Nach einer Weile sah er sie mit festem Blick an. Er war in der Realität angekommen.
„Ich kann es nicht glauben“, sagte er, doch Sarah wusste nicht, was er meinte: die grausamen, grotesken Bilder, oder aber seine Reaktion darauf. Hatte er die Szene genau so erlebt wie sie? Voller Emotionen, Neugier, Faszination? Verspürte er in diesem Moment dieselbe Scham, weil er, wie sie, dem Schauspiel fast lüstern gefolgt war? Sie vermochte es nicht zu beurteilen.
„Ich brauche eine Pause und etwas Ablenkung“, brach er nach einer gefühlten Ewigkeit das Schweigen.
„Ich bin zu einhundert Prozent bei dir“, befürwortete sie dankbar den Vorschlag.
Thomas erhob sich und nahm seinen Anorak von der Stuhllehne.
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