1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 „Er muss dem Mädchen etwas gespritzt haben“, informierte Sarah ihren Partner. „Das sind die Utensilien dazu.“
„Und zwar immer wieder“, ergänzte Thomas, der an das Bett herangetreten war. „Dort liegt ein Venenzugang mit einem Stück Schlauch. Ich vermute, sie wurde auf diese Weise ruhiggestellt.“
Noch bevor Sarah den Fund auf der zerwühlten Bettdecke in Augenschein nehmen konnte, ertönte abermals die Stimme des ungeduldigen Hundeführers aus den Funkgeräten.
„Ist da drin alles okay? Brauchen Sie meine Hilfe?“
„Alles in Ordnung, wir brauchen Sie nicht“, antwortete diesmal Thomas dem Kollegen.
„Wir kommen gleich raus und überlassen das Feld der Spurensicherung. Finden Sie bitte heraus, wie die mit einem Fahrzeug hierherkommen. Ich habe ein wenig die Orientierung verloren, aber vielleicht ist ja irgendein Kaff in der Nähe. Der Weg, den wir genommen haben, ist mit dem ganzen Equipment zu weit und zu beschwerlich.“
„In diesem Fall würde ich trotzdem gerne zu Ihnen reinkommen“, tönte es zögerlich von draußen. „Da drinnen ist es bestimmt etwas wärmer, oder?“
Sarah und Thomas tauschten kurze Blicke, wobei es Sarahs Miene war, aus der etwas Bittendes zu lesen war, während Thomas ein skeptisches Stirnrunzeln offenbarte. Trotzdem lenkte er ein.
„In Ordnung, kommen Sie durch den Vordereingang rein und bleiben Sie in dem ersten Zimmer. Legen Sie den Hund in der Nähe des Herdes ins Platz und sehen Sie zu, dass weder er noch Sie etwas kontaminieren.“
Ein erleichtertes Danke drang zu den beiden in den Raum und die knirschenden Schritte des Kollegen entfernten sich. Sarah und Thomas sahen sich weiter um.
Just in dem Momentals Dr. Wiese der digitalen Spiegelreflex die Speicherkarte entnahm und die Kamera zur Seite legte, klopfte es an der Tür des Behandlungsraums und herein trat eine leicht untersetzte Mitdreißigerin. Ein dunkelblonder Lockenschopf umrahmte ein freundliches, offenes Gesicht, aus dem neugierig warme, braune Augen herausstrahlten. Dem sympathischen Erscheinungsbild entsprach auch die angenehme, fast beruhigende Stimme, mit der sich die Dame vorstellte.
„Ich bin Melanie Escher, Psychologin vom Jugend- und Sozialamt Freiburg. Hier wartet eine kleine Patientin auf mich?“
Sie streckte ihre Hand aus, die sowohl von Dr. Wiese als auch von Professor Schwarz unter Nennung ihres jeweiligen Namens ergriffen wurde. Beiden fiel das am Hals hervorlugende Etikett auf, das verriet, dass sich die Psychologin zu dieser nachtschaffenden Stunde in aller Eile angezogen hatte und daher den Merinopullover falschherum trug. Die Dame vom Jugendamt bemerkte die Blicke der Ärzte, so scheu und kurz sie auch gewesen sein mochten. Sie lächelte breit.
„Meine Socken passen sicher genauso nicht zueinander und von dem Rest wollen wir gar nicht erst sprechen“, sagte sie mit einem schelmischen Grinsen. „Wo ist denn nun die Kleine?“
„Gleich hier drüben.“
Wiese geleitete Escher in das Nebenzimmer, wo immer noch die Krankenschwester neben dem unbekannten Mädchen saß und ihre Hand auf deren Unterarm liegen hatte.
„Sie kommen gerade rechtzeitig“, informierte Wiese. „Wir sind mit unserer Arbeit fertig und werden die Patientin auf Station verlegen, da ist es sicher gut, wenn Sie auf dem Weg dorthin schon dabei sind.“
Die Psychologin nickte, war mit ihrer Aufmerksamkeit jedoch schon voll bei dem Mädchen, das apathisch mit gestütztem Oberkörper in dem Bett lag. Escher blieb zunächst am unteren Ende des Bettes stehen.
„Hallo“, sagte sie mit fast seidiger Stimme und legte ihre Hand sacht auf den Knöchel des Mädchens. „Ich bin Melanie. Ich werde zunächst einmal bei dir bleiben und wenn du schläfst auf dich aufpassen. Ist dir kalt? Soll ich dich ein wenig zudecken?“
Sie trat an das Bett heran, und erst jetzt drehte sich das Gesicht etwas und das Paar grüne Augen blickten zu Melanie Escher. Es sollte bei dem seelenlosen Blick bleiben, das Kind zeigte keine weitere Reaktion. Die Psychologin legte die Hand vorsichtig auf dessen Schulter und sowohl Dr. Wiese als auch Schwarz wussten, dass sie über die Körperlichkeit eine Verbindung zu dem Mädchen aufzubauen versuchte, ohne ihm zu nahe zu treten oder, schlimmer, etwas zu triggern, das mit dem Erlebten zusammenhing. Da keine erkennbare zurückschreckende oder abweisende Reaktion erfolgte, beließ Escher die Hand auf der Schulter, als sie mit der anderen in ihrer voluminösen Tasche kramte und nach einigem Suchen ein Kinderbuch zum Vorschein brachte. Der kleine Klabautermann war auf dem Cover zu lesen.
„Magst du Geschichten mit Piraten und Schatzkarten?“, erkundigte sie sich, doch abermals verweigerte das Mädchen eine Reaktion.
„Können wir auf die Station? Dort ist es kindgerechter und nicht so steril wie hier“, beendete sie den Versuch, jetzt schon zu der Patientin vorzudringen.
Wiese nickte.
„Kinderstation, Zimmer 314“, antwortete sie. „Medizinisch ist es nicht notwendig. Soll ich der Patientin trotzdem etwas geben, damit sie schläft?“
Escher schüttelte den Kopf.
„Nein. Später, wenn wir feststellen, dass sie traumabedingt nicht schlafen kann, dann vielleicht. Aber nicht im Moment. Vielleicht kann ich ja schon etwas in Erfahrung bringen.“
„Wenn dies der Fall sein sollte, dokumentieren Sie bitte alles haarklein“, schaltete sich Schwarz ein. „Ich kenne die Kollegen, die diesen Fall bearbeiten sehr gut und sie legen viel Wert darauf, jede scheinbar noch so unbedeutende Information zu erhalten.“
„Das werde ich“, versprach die Psychologin.
„Morgen im Laufe des Vormittags werden sie sicher persönlich herkommen, um die Patientin, soweit es die Umstände zulassen, zu befragen.“
„Aber nur, wenn ich dabei bin, und in dem Maße, wie ich das erlaube!“
Zum ersten Mal lag etwas Schärfe in der Stimme Eschers, doch Schwarz beruhigte die Psychologin.
„Sie denken zu sehr in Klischees“, sagte er. „Die Kollegen werden sogar auf Ihre Anwesenheit bestehen und selbstverständlich einfühlsam agieren.“
Escher quittierte das Statement mit einem Nicken.
„Also zumindest Frau Hansen“, fügte Schwarz noch mit einem Augenzwinkern hinzu.
In dem Holzhaus im tief verschneitenWald herrschte emsiger Umtrieb. Nachdem der Hundeführer ihre Position mitgeteilt und man einen einigermaßen gut zugänglichen Punkt in der Nähe der Hütte ausfindig gemacht hatte, mussten die drei Polizisten geschlagene anderthalb Stunden warten, bis die Spurensicherung bei ihnen eingetroffen war. Da auch Sarah und Thomas dem Tatort keine weiteren eigenen Spuren hinzufügen wollten, hatten sie sich zu dem Kollegen und dessen Hund in den wärmsten Raum gesellt und sich über dies und jenes unterhalten. Über das Einkochen von Himbeermarmelade über Einsteins allgemeine Relativitätstheorie bis hin zu der Tatsache, wie einfach es für Terroristen sei, Senfgas aus verschiedenen Allzweckreinigern selbst herzustellen.
Doch jetzt erhellten die Blitze zweier Kameras die Räume, mit denen die Techniker jedes Objekt, jedes Möbelstück und jede Spur dokumentierten, bevor sie Beweismaterial bewegten, eintüteten oder gar Einrichtungsgegenstände verrückten, um gegebenenfalls Corpora Delicti freizulegen. Auch Luminol und Schwarzlicht kamen zum Einsatz, ganz zu schweigen von Unmengen von unterschiedlichen Fingerabdruckpulvern, mit dem die Techniker Klinken, Flächen und Artefakte bepinselten. Aufmerksam verfolgten Sarah und Thomas die Arbeiten, während der Kollege der Hundestaffel begann, sich zu verabschieden.
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