Sie legte den Steckbrief auf den Tisch und wartete darauf, dass ihr Partner etwas dazu sagen würde. Da dieser jedoch keine Anstalten machte, die sich aus dem Blatt Papier ergebende Aufgabe zu delegieren, nahm Sarah es zum Anlass, selbst aktiv zu werden.
„Wer kümmert sich um die Recherche?“, fragte sie, da sie als jüngstes Mitglied des Teams nicht befugt und auch nicht gewillt war, eine Anweisung zu erteilen. Selbst wenn sie, so ihre Überzeugung, von Thomas dafür Rückendeckung bekommen hätte.
„Ich mach das“, meldete sich sofort Karen Polocek eifrig zu Wort. „Ich gehe die Vermisstendatenbanken durch und nehme Kontakt zu den anderen Behörden und den Kollegen im Ausland auf.“
Sarah schob ihr das Papier über den Tisch, blickte fragend zu Thomas, der ein kaum wahrnehmbares Nicken des Einverständnisses zeigte.
„Du wirst mit den Kollegen heute nicht viel Glück haben. Genauso wenig verspreche ich mir Erfolg bei der Identifizierung des Toten. Fingerabdrücke können wir zwar durchlaufen lassen, aber was die Besitzverhältnisse bezüglich der Waldhütte angeht et cetera, müssen wir ebenfalls bis morgen warten, genau wie bei den genauen Ergebnissen der Spusi. Zurückverfolgung der elektronischen Geräte anhand der Seriennummern macht auch erst Sinn, wenn morgen die Geschäfte wieder geöffnet haben. Für die Überprüfung der Funkzellen im Bereich der Hütte brauchen wir einen Beschluss. Hans, das machst du morgen. Ich denke, was im Moment am produktivsten ist, wäre die Durchsicht der DVDs vom Tatort. Vielleicht können wir da etwas ermitteln, was uns weiterbringt.“
Er suchte den Augenkontakt mit jedem Einzelnen, und nachdem niemand eine Frage hatte, legte er seine Dokumente zurück in den Schnellhefter.
„Okay, wir können es uns leisten, jeweils zu zweit das Material zu sichten. Ich habe die Discs im Büro. Nico, holst du die Scheiben für Hans und dich dort ab? Sarah und ich übernehmen den Rest.“
Drei Minuten später saßen die beiden an Sarahs Schreibtisch. Thomas hatte seinen Bürostuhl um den Tisch herumgerollt und sich so positioniert, dass sie einen guten Blick auf den Computermonitor hatten. Er öffnete das DVD-Laufwerk des Desktops und legte die CD ein, die sich in der Hütte im Player befunden hatte. Noch bevor Sarah die Aufnahme startete, kam Nico Berner ins Büro. Ohne ein Wort zu sagen zeigte Thomas auf einen Stapel DVDs, die er auf seinem Schreibtisch für ihn bereitgestellt hatte.
„Schon was gesehen? Ist es übel?“, fragte er.
Sarah schüttelte den Kopf, während Thomas letzte Anweisungen zu den Beweisstücken gab.
„Schwerpunkt ist klar, denke ich. Screenshots von allem, was uns in irgendeiner noch so erdenklichen Form weiterbringt. Schatten oder Spiegelungen, die auf Anwesenheit einer zweiten Person hindeuten. Schrift oder Ton, die uns etwas über den Mann verraten. Ach, ihr wisst schon…“
Berner nickte.
„Natürlich!“, sagte er in neutralem Tonfall und verließ mit den DVDs das Büro.
Sarah startete den ersten Videoclip, der trotz der Dunkelheit in der Hütte eine erstaunlich gute Qualität aufwies. Sie sprang vorwärts, bis ungefähr zu der Stelle, an der sie des Nachts abgebrochen hatten. Auf dem Monitor konnten sie jetzt verfolgen, wie der Mann seine Maske abnahm, den Dolch mittig in den Gürtel des Gewands steckte und eine Schale nahm, die außerhalb des Bildausschnitts gestanden hatte. Erneut sprach er Verse auf Latein und Altgriechisch, hob die Schale mit ausgestreckten Armen nach oben, senkte sie bis auf Kniehöhe, bewegte sie nach rechts und nach links, bevor er sie wieder über den Kopf hob.
„Müssen wir das Kauderwelsch übersetzen, das er da von sich gibt?“, fragte Sarah.
„Was würdest du sagen?“, entgegnete Thomas.
„Von mir ein klares Nein“, antwortete sie. „Zumindest so lange nicht, bis sich eindeutig ermittlungsrelevante Gründe dafür ergeben.“
Thomas nickte nur.
„Gleiches gilt auch für die Choreografie. Wenn sich abzeichnet, dass wir es mit einer Gruppierung zu tun haben, könnte man das einem Anthropologen vorlegen, aber im Moment halte ich das für überflüssig“, fügte Sarah ihrem Statement noch hinzu.
„Sehr gut, so machen wir das.“ Thomas schien sehr zufrieden mit der Antwort.
Auch wenn sie und ihr Partner erst ein halbes Jahr zusammenarbeiteten sah Sarah die Fragen, die ihr Thomas hin und wieder stellte, nicht als Tests an, sondern eher als Aufforderung, ihre eigenen Ideen und Ansätze einzubringen. An Thomas‘ Reaktionen hatte sie bisher immer ablesen können, dass er ihr Feedback sehr schätzte und eine unterschiedliche Meinung in seine eigenen Überlegungen mit einbezog.
Auf dem Monitor hatte der Unbekannte mittlerweile sein Gebet beendet. Er tauchte Zeige- und Mittelfinger in die Schale und malte sich mit der roten Flüssigkeit, bei der es sich um Blut zu handeln schien, ein Kreuz auf die Stirn. Dann öffnete er die Kutte über der Brust und versah sein Sternum ebenfalls mit einem roten Kreuz. Als Letztes malte er das christliche Symbol auf seinen Mund, stellte die Schale außer Sichtweite, zog den Dolch aus dem Gürtel und hob ihn mit beiden Händen hoch, so als wollte er sich diesen gleich in den Unterleib rammen. Doch stattdessen senkte er die Arme, den Dolch in der Rechten, bis sie seitlich in der Waagrechten angekommen waren und er quasi die Position eines Gekreuzigten eingenommen hatte. Nach einem lauten, langen Schrei trat er rückwärts, bis er wieder in der Dunkelheit verschwand, danach brach der Clip ab.
„So“, sagte Thomas. „Was sollen wir von dieser kranken Scheiße denn halten?“
Er klickte auf die Eigenschaften der Dateien auf dem Datenträger.
„Diese Clips hat er alle gestern gemacht, als ihn später der plötzliche Tod durch seine Gefangene ereilte“, stellte Sarah fest. „Oder zumindest hat er sie an dem Tag auf DVD gebrannt. Aber das war am Nachmittag. Immerhin verrät uns das Video etwas. Erstens ist es nachbearbeitet. Denn wir sehen weder, wie er die Kamera startet, noch wie er sie wieder stoppt. Er hat also, vorausgesetzt er war allein, den Anfang und das Ende der Aufnahme nicht auf die DVD überspielt. Ich vermute, er empfand das als unpassend oder wider seines Sinns für Ästhetik.“
Sarah knetete nach ihrer Feststellung nachdenklich die Unterlippe.
„Und das Erscheinen und Verschwinden in der Dunkelheit muss er hinterher mittels eines Effekts eingefügt haben. Die Qualität der Kamera ist so gut, sie hätte selbst bei Kerzenlicht das andere Ende des Raumes aufgezeichnet. Wobei wir an einem Punkt sind, der uns ja gestern schon klar war: Die wirklich wichtigen und aktuellen Aufnahmen sind auf der Kamera. Ich frage mal nach, ob die von der Technik uns die Aufnahmen schon auf einen Stick gezogen haben. Ansonsten sollen sie uns die originale SD-Karte geben.“
Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Kriminaltechnik.
„Hallo Friedbert. Gestern Nacht wurde unter anderem eine Kamera sichergestellt. Habt ihr das Material, das dort drauf war, schon kopiert? ….ja, dir auch einen schönen Sonntag. Okay. Ja, ich warte.“
„Eins muss man wirklich zugeben“, stellte Sarah fest. „Die Arbeitsmoral hier ist wirklich bemerkenswert.“
„Vor dem Hintergrund, dass ihn seine Frau vor ein paar Wochen verlassen hat, kann man allerdings nachvollziehen, dass er sonntags im Büro oder Labor anzutreffen ist“, erklärte Thomas. „Und vergiss nicht, wir sind ja schließlich ebenfalls da.“
„Auch wieder richtig“, gab Sarah zu und verstummte, da Thomas auf den Hörer zeigte, um zu sagen, dass sich der Techniker wieder gemeldet hatte. Sie beugte sich vor und aktivierte kurzerhand den Lautsprecher.
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