1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 „Sicher“, murmelte Thomas fahrig, doch Sarah bedankte sich und wünschte ihm und Connor einen guten Heimweg und eine erholsame Rest-Nacht.
„Friedhelm, seid ihr mit dem Schrank dort fertig? Auch innen?“, fragte ihr Partner einen regelrechten Hünen in weißem Overall und deutete auf das Highboard.
„Mhmmm“, nickte der Gefragte und wandte sich wieder dem Altar zu, an dem er mit Wattestäbchen versuchte, mögliche DNA-Spuren zu sichern.
„Dann schauen wir mal“, ermunterte Thomas Sarah und öffnete die Tür, die dem seltsamen Thron gegenüberlag. Erwartungsgemäß befand sich dahinter ein Fernseher, ein älteres Flachbildgerät, auf dessen Bedientasten sich fluoreszierendes Fingerabdruckpulver befand. Darunter konnten er und seine Partnerin sowohl einen DVD-Player als auch einen VHS-Recorder erkennen. Thomas schaltete Fernseher und Player ein. Sogleich switchte das TV-Gerät auf den Player als Bildquelle.
Auf dem Bildschirm waren zunächst nur Dunkelheit und das leicht flackernde Licht einer Kerze zu erkennen. Nach einigen Sekunden trat aus dem schwarzen Hintergrund eine Gestalt in den Kerzenschein. Sie trug eine Art Kutte und die Maske, die Sarah und ihr Partner zuvor schon auf dem Sideboard hatten liegen sehen. Vor sich hielt die Person mit beiden Händen den seltsamen Dolch, den das rothaarige Mädchen bei sich gehabt hatte. Je näher die Gestalt dem Aufnahmegerät kam, desto deutlicher konnte man gemurmelte Worte vernehmen, die Sarah als ein Sammelsurium aus Latein, Altgriechisch und einer ihr unbekannten Sprache identifizierte. Fast musste Sarah lachen, denn das Intro zu dem Video erinnerte sie stark an Horrorfilme aus den sechziger Jahren.
„Fehlt nur noch Orgelmusik und die Ankündigung von Vincent Price“, flüsterte sie mit einem Seitenblick auf ihren Partner, der sofort lächelte. Er nahm die Fernbedienung und schaltete das Video ab.
„Ich möchte mir nicht vorstellen, was da noch so alles zu sehen ist. Vor allem aber will ich es nicht hier an diesem grotesken Ort ansehen. Das machen wir morgen im Präsidium.“ Er blickte an einen Teil der Wand, wo in einer Höhe von etwa einem Meter achtzig massive Ringe in der Wand verankert waren. An diesen waren verschließbare Metallschnallen angebracht. Er trat einen Schritt zurück, machte Sarah darauf aufmerksam und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das erinnert mich an ein Verlies, wo Menschen einer Kreuzigung gleich an einer Wand fixiert werden“, brachte Sarah hervor und schüttelte sich. „Wie grausam ist das denn?“
„Wenn er das Mädchen da hineingehängt hätte, wäre sie mit der Zeit erstickt. Die Fesseln waren also, wenn überhaupt, nur kurzzeitig in Gebrauch.“
„Die Vorstellung ist trotzdem quälend! Egal wie lange oder wie kurz jemand so etwas ausgesetzt wird.“
Thomas nickte bestätigend und sprach einen Mitarbeiter der Spurensicherung an, der eine digitale Spiegelreflexkamera mit einem aufgesetzten Systemblitz in eine Beweistüte packen wollte.
„Warten Sie bitte kurz! Darf ich die mal haben?“
Der Kollege übergab ihm die Kamera. Thomas orientierte sich kurz, schaltete sie nach wenigen Momenten an und drückte den Knopf für die Bildwiedergabe. Schon das erste Bild war erschreckend. Erschreckend grausam. Erschreckend ästhetisch. Tatsächlich war das rothaarige Mädchen zu sehen, wie es in dem weißen Gewand vor der weißen Wand in den Fesseln hing. Allerdings war auf dem Boden ein Holzschemel zu erkennen, auf dem sie sich gerade eben noch mit den Zehenspitzen abstützen konnte. Die High Key Aufnahme, auf der sich lediglich die blasse Haut, einige Falten in dem Gewand und das fast feuerrote Haar sowie die grünen Augen des Mädchens von dem gleißenden Weiß abhoben, strahlte eine Magie aus, der man sich als Betrachter schier nicht entziehen konnte! Der Mann hinter der Kamera hatte gewusst, was er tat! Thomas klickte sich durch eine ganze Serie ähnlicher Bilder, dann schaltete er die Kamera aus und übergab sie zurück an den Kollegen der Spurensicherung.
„Komm“, sagte er an Sarah gewandt. „Wir schauen zu, dass wir noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Das wird morgen ein langer Sonntag.“
„ Guten Morgen allerseits“, begrüßte ThomasBierman die Anwesenden Karen Polozek, Nico Berner und Hans Pfefferle, als er mit Sarah im Schlepptau den kleinen Konferenzraum betrat.
„Da wären wir fünf mal wieder beisammen. Gröber scheint unsere Arbeit zu gefallen“, setzte er hinzu, legte einen recht dünnen Aktenordner auf den Tisch und ließ sich am Kopfende nieder. Sarah ließ ebenfalls ein Guten Morgen verlauten und suchte sich den Platz neben ihrer Kollegin, die freudig lächelnd bereits den Stuhl vom Tisch weggerückt hatte.
„Er kommt später vielleicht dazu. Hätten wir Sommer, wäre er wohl auf dem Golfplatz. Aber ich habe keine Idee, was er bei diesen Wetterbedingungen am Sonntagmorgen so macht. Skifahren wird er ja wohl kaum“, kündigte Thomas den eventuellen Besuch des nicht übermäßig beliebten Ressortleiters an. „Zum derzeitigen Stand wird er schlimmstenfalls einen Schwall heiße Luft verbreiten, also können wir sicher einige Zeit konzentriert und ungestört arbeiten.“
Auf allen Gesichtern zeichnete sich ein süffisantes Lächeln ab, wussten alle um das zwanghafte Geltungsbedürfnis und die bisweilen unkontrollierten Anfälle ihres cholerischen Chefs.
„Also gut“, eröffnete Thomas das Meeting. „Es ist fünf nach elf, den vorläufigen Bericht haben schon alle gelesen, nehme ich an. Irgendwelche Fragen?“
Sein Blick machte die Runde.
„Wie geht es dem Mädchen?“, fragte Karen und in ihrer Stimme schwang Besorgnis mit.
Sarah, die Thomas genau beobachtete, konnte sehen, dass die Frage ihrer empathischen Kollegin nicht zu den Themen gehörte, die er hier und jetzt besprechen wollte, doch er riss sich zusammen und antwortete sachlich.
„Sie hat die Nacht augenscheinlich gut überstanden und ohne ein Sedativum verabreicht bekommen zu haben, sehr lange geschlafen. Sarah hat eben mit der behandelnden Ärztin telefoniert.“
Ein erleichtertes Nicken, das auch von Hans Pfefferle aufgegriffen wurde, quittierte diese Information.
„Hat sie bereits irgendetwas gesagt? Spricht sie überhaupt unsere Sprache?“, hakte Karen nach.
„Hat sie nicht“, sprang Sarah ein, „und das mit der Sprache ist ein guter Ansatz. Dr. Wiese, die Ärztin, geht zwar davon aus, dass ihre Apathie und das damit verbundene Schweigen auf die erlittenen Traumata zurückzuführen sind. Dr. Schwarz jedoch hat bei der Auswertung der gestern angefertigten Bilder in Bezug auf ihre Zähne eine Vermutung aufgestellt. Die meisten Problemstellen sind wohl nie richtig behandelt worden, aber immerhin hat ihr Gebiss eine Plombe aufzuweisen, von der Schwarz sicher ist, dass sie nicht in Mitteleuropa angefertigt und platziert wurde. Da ja auch in Polen, Tschechien und der Slowakei seit etlichen Jahren erstklassige zahnmedizinische Arbeit geleistet wird, tippt er entweder auf Russland oder Weißrussland beziehungswiese auf den Balkan.“
„Wie gehen wir in Bezug auf das Mädchen weiter vor?“, wollte Nico Berner wissen.
Da Thomas dabei war, die losen Seiten aus dem Aktenordner zu sortieren, antwortete abermals Sarah:
„Vorausgesetzt, wir sind nicht in der Lage, zeitnah ihre Eltern zu ermitteln, wird sie noch mindestens zwei Tage in der Klinik unter der Obhut von Frau Dr. Wiese und dem Jugendamt bleiben. Die zwei werden auch entscheiden, wann und in welcher Intensität wir mit der Kleinen arbeiten dürfen. Wir hoffen, dass wir heute Nachmittag ein erstes Gespräch wagen können. Bis dahin werden die Damen auf jeglichen Hinweis, der zu Klärung ihrer Identität und Herkunft beitragen kann, achten. Derweil“, sie nahm Thomas das Blatt, welches er ihr hinhielt, aus der Hand, „haben wir ihre Beschreibung und Portraitbilder.“
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