Ein Holzscheit, der hinter ihm im Kachelofen lautstark knackte, lenkte seine Aufmerksamkeit weg von der winterlichen Landschaft draußen zurück in den Raum, in dem er sich befand. Er trat neben seinen massigen Hochlehner und drückte den Stummel seiner russischen Zigarette in einem Messingascher aus. Dann nahm er sich den Stapel an Reisepässen, der auf dem riesigen Eichenschreibtisch lag, setzte sich in den thronartigen, reich verzierten Stuhl und begutachtete das oberste der Dokumente.
Maria Palijewa , siebzehn Jahre alt. Geboren in Boriwske , Ukraine. Haare mittelblond, Augen blau, Größe 1,69 m.
Das Bild in dem Pass zeigte ein etwa fünfzehnjähriges, auffallend hübsches Mädchen, das unbekümmert in die Linse der Kamera lächelte. Vor seinem inneren Auge sah Wellner die junge Frau, die gemeinsam mit den anderen zwei Ukrainerinnen zwei Stockwerke über ihm in der „Wohnung“ eingesperrt war. Die ungefähr zwei Jahre, die seit Aufnahme des Fotos im Ausweis vergangen waren, hatten Maria reifen lassen, ohne sie ihrer natürlichen Schönheit zu berauben - im Gegenteil!
Wellner atmete tief durch, legte den Pass beiseite und blätterte in dem nächsten.
Daria Kowalewa , dreiundzwanzig. Haarfarbe braun, Augen braun, Größe 1,73. Ebenfalls aus einem Ort in der Ukraine, von dem er nie gehört hatte: Tschuhujiw , etwa vierzig Kilometer südöstlich von Charkiw . Und auch sie ein echter Hingucker, aber das waren sie schließlich alle. Zumindest diejenigen, die seine Bosse als „im fickbaren Alter“ bezeichneten. Dies galt nach Wellners Maßstäben allerdings für das nächste Mädchen nicht:
Tiana Vasileva , dreizehn Jahre alt, Haarfarbe rot, Augenfarbe grün, 1,53. Geboren in Targowischte , Bulgarien. Zu sehr Kind, als dass man von sexueller Attraktivität sprechen könnte. Aber nicht unansehnlich. Und Wellner wusste, dass sie ihrer Haarfarbe wegen eine „Bestellung“ war und der Kunde auch nicht vorhatte, sie wegen sexueller Dienstleistung zu ordern. Oder zumindest nicht ausschließlich. Sein Vorhaben war wohl weitaus perverser, denn er hatte den Full Service gebucht. Dies bedeutete, dass er sie zu gegebener Zeit zurückgeben würde, ohne dass ihr Zustand dabei eine Rolle spielte. Wellner war lange genug im Geschäft, um nahezu vollkommen abgehärtet zu sein, doch in ihrem Fall hatte er einen leichten Kloß im Hals, denn er wusste, dass er das Mädchen vermutlich endgültig entsorgen musste…wie schon so manche junge Frau zuvor.
Nermina Suthampong, die kleine Thai aus Pattaya blickte ihm aus dem nächsten Dokument entgegen, einundzwanzig Jahre jung, 1,56 groß, Haare schwarz, Augen dunkelbraun. Sie war wohl das Mädchen, in das sich Wellner verliebt hätte, wäre sie nicht Ware seiner Auftraggeber gewesen. Die siebenundzwanzig Jahre Altersunterschied hätten ihm nun wirklich nichts ausgemacht! Er warf die restlichen fünf Reisepässe auf den Tisch vor sich, griff zu der Flasche Mineralwasser, schenkte sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug.
Wellner wandte seine Aufmerksamkeit einem Stapel anderer Dokumente zu. Dass er Importware entgegennahm, versorgte und bei Laune hielt, um sie bei Abruf weiterzuschleusen, war seinerzeit der Bestandteil der geschäftlichen Abmachung gewesen. Eine Abmachung, die ihm aufgezwungen wurde, nachdem er bei den falschen Leuten Schulden gemacht hatte. Das Modell habe bereits Schule gemacht, er könne durch seine Arbeit den erheblichen Geldbetrag, mit dem er bei den Männern aus Russland in der Kreide stand, recht schnell abarbeiten, sozusagen als eine Art Franchisenehmer. Widerwillig, aber ohne erkennbare Alternative hatte er angefangen, zumeist einzelne junge Frauen bei sich aufzunehmen. In der Regel blieben sie nur einige Tage, bis sie von ebenso unangenehmen Männern wieder abgeholt wurden, wie die, die sie zuvor bei ihm abgeliefert hatten. Nicht nur die Schuldenlast konnte er so bedienen, er bekam auch Spesen, die ihm erlaubten, sein bescheidenes Leben zu finanzieren. Mit der Zeit schien das Geschäft zu expandieren: Die Lieferungen kamen regelmäßiger und öfter. Die Männer waren nach und nach besser gekleidet, und die Fahrzeuge, mit denen die Mädchen gebracht wurden, sahen teurer aus. Als zum ersten Mal zwei junge Damen gleichzeitig bei ihm abgeliefert wurden, hatte er sich getraut, nachzufragen, wann denn seine Schuldigkeit getan sei. Mehr aus Neugier, denn er hatte bereits zuvor darüber nachgedacht, was er wohl tun möge, wenn das auch für ihn immer einträglichere Geschäft eines Tages ein Ende haben würde. Seine Gläubiger hatten dies wohl in den falschen Hals bekommen, denn tags darauf tauchten wieder zwei von den unangenehmeren Typen bei ihm auf und machten ihm klar, dass es vollkommen unerheblich war, ob er noch etwas schuldig sei oder nicht. Er sei mittlerweile Teil der Familie, семья́ , wie ihn der Schläger wissen ließ, und als ob ihre physische Präsenz nicht genug Nachdruck verlieh, zog er auch noch zwei Fotos aus der Tasche. Auf dem einen war Wellner mit einer seiner jungen Gäste zu sehen, wie sie zusammen einen Einkaufswagen schoben. Sofia , er erinnerte sich gut an sie. Auf dem zweiten Bild war sie nur schwer zu erkennen und Wellner hatte Mühe gehabt, sie überhaupt zu identifizieren, so übel zugerichtet war sie.
„Sie war erst fünfzehn und wird aussagen, du seist das gewesen, und zwar als du sie zum Sex gezwungen hast“, hatte der Mann ihm mitgeteilt, und auf seinem Sackgesicht, so wie Wellner es beschreiben würde, hatte sich ein breites Grinsen breitgemacht.
„Und außerdem, was willst du, Towarischtsch ? Du verdienst doch gut Geld damit, oder?“
Der Gedanke an den darauffolgenden Schlag auf seine Schulter ließ ihn heute noch zusammenzucken. Nicht auszudenken, wenn ihn das Sackgesicht mit seinen kochtopfgroßen Fäusten aufgemischt hätte. Natürlich hatte Wellner seine weitere Mitarbeit versichert und das nicht nur wegen der unverhohlenen Drohungen. Er hatte schließlich längst begriffen, dass er sich des Menschenhandels strafbar gemacht hatte und außerdem war seine Tätigkeit tatsächlich mittlerweile sehr einträglich. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass er seinerzeit ziemlich cleveren Geschäftsleuten auf den Leim gegangen war, die genau wussten, was sie taten und welche Knöpfe sie drücken mussten.
Als sie schließlich nach etwa acht Jahren die Tätigkeiten in das Schlösschen verlegten, hatte er praktisch immer mindestens drei Mädchen zu betreuen, die mitunter auch mehrere Wochen in dem Anwesen verbrachten. Zu diesem Zeitpunkt begannen auch die Partys, bei denen in unregelmäßigen Abständen offensichtlich sehr gut betuchte Gäste auf das Schloss kamen und ein Wochenende lang ihre sexuellen Fantasien ausleben konnten. Nur wenige Monate nachdem Wellners Arbeit in das Schloss verlegt worden war, wurde ihm zum ersten Mal die Aufgabe zuteil, eine junge Frau, die kurz zuvor aus seiner Obhut abgeholt worden war, verschwinden zu lassen. Ein Betriebsunfall, hatte man ihm gesagt, doch da es nicht bei dieser einen bleiben sollte, wurde ihm schnell klar, dass seine семья́ ihr Angebot erweitert hatte und nun die abscheulichsten, perversesten Bedürfnisse ihrer Klientel bediente. Die Bezeichnung full service hatte sich bei der Besprechung in sein Hirn gefressen, bei der er zwei Mitglieder aus der Führungsriege kennenlernte. Einen smarten Businessman, der rein äußerlich eher ein Oligarch zu sein schien als ein Mitglied der russischen Mafia. Und eine ebenso wirkende Russin, atemberaubend schön, vielleicht Mitte dreißig, die so eiskalt über Ware, Termine und Service sprach, dass es selbst den mittlerweile abgebrühten Wellner anekelte und er sich fragte, wie eine Frau derartig grauenvolle Taten an anderen Frauen nicht nur zulassen, sondern sogar organisieren konnte. Zu diesem Zeitpunkt war er so tief verstrickt in die Machenschaften und verdiente so viel Geld, dass an ein Aufhören nicht mehr zu denken war – selbst wenn sich dann und wann der zarte, schwer zu hörende Ruf eines noch rudimentär vorhandenen Gewissens bei ihm regte.
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