Der Ordner, den er jetzt aufgeschlagen vor sich gelegt hatte, stand für eine zweite Änderung in dem geschäftlichen Gebaren. Waren in den ersten Jahren nur Frauen aus dem Osten hergebracht worden, gelegentlich auch aus asiatischen Ländern, wurden seit geraumer Zeit zusätzlich Mädchen und Jungen in dem Anwesen untergebracht, die aus mittel- und westeuropäischen Staaten stammten und nach der hiesigen Zwischenstation ihren Weg in andere Länder nahmen, vorwiegend in den Nahen Osten, aber auch nach Russland und Nordamerika. Die Anzahl der Bestellungen gezielter Phänotypen war im Laufe der Zeit deutlich gestiegen. Und um genau solch eine Bestellung handelte es sich bei dem Ordner, dessen Inhalt er jetzt vor sich ausbreitete. Genauer gesagt war diese Akte schon weit in der Bearbeitung vorangekommen, denn einer der Beschaffer hatte bereits ein Opfer ausgespäht, das den Kriterien entsprach. Die Beschaffer waren Männer und Frauen, deren echte Namen nur Wellner kannte. Die Kommunikation lief über Prepaidhandys, die nach jedem Einsatz vernichtet wurden, und zu Gesicht bekam er sie nur bei der Übergabe von Unterlagen oder der Ware. Diese Übergaben fanden an unterschiedlichen Treffpunkten statt und Wellner wusste, dass die Beschaffer keine Ahnung von der Existenz dieses Anwesens hatten. Genausowenig wie die Schleuser, die die Mädchen oder – wie in diesem Fall – Jungs, an anderer Stelle entgegennahmen, um sie ihrem Ziel näher zu bringen. Näher bringen deshalb, weil auf dieser Reise mindestens zweimal eine Übergabe stattfand. Wellner hatte sich seinerzeit überlegt, warum dieses Risiko eingegangen wurde, doch irgendwann hatten es ihm seine Chefs erklärt: Zum einen wurde dadurch deutlich erschwert, dass nach einer Verhaftung am unteren Ende des Netzwerks die Verbindungen zu den Köpfen und Auftraggebern verfolgt werden konnte. Zum anderen solle erreicht werden, dass jeder Mitarbeiter auf genau seinem Gebiet spezialisiert ist – was die genaue Ortskenntnis mit einbezog. So kannte jeder Einzelne Risiken und Vorteile bestimmter Streckenabschnitte und konnte gegebenenfalls schnell über Alternativrouten entscheiden. Diese Erklärungen leuchteten Wellner immer noch ein. Aber auch horizontal war das Netz vor Aufdeckung bestens abgesichert, so musste er selbst dafür sorgen, dass die Beschaffer , die sich untereinander nicht kannten, niemals treffen durften. Die Prepaid Handys, die er stets zugeschickt bekam, durften auf keinen Fall in dem Schlösschen und im Umkreis von dreißig Kilometern eingeschaltet werden. Sollte einmal ein Handy in die Hände der Ermittlungsbehörden fallen, war so sichergestellt, dass eine nachträgliche Auswertung der Verbindungen und der Funkzellen nicht in die Nähe des Hauses führen würde. Überhaupt war er verpflichtet, für die mobile Kommunikation jedes Mal unterschied-liche Stellen aufzusuchen, was einen erheblichen Fahrauf-wand bedeutete. Aber so konnte man die Polizei im Fall der Fälle zuverlässig vom Verteilerzentrum , wie er seinen Wirkungsbereich nannte, fernzuhalten. Das Anwesen und seine Person stellten natürlich grundsätzlich einen sehr sensiblen Knoten dar, deswegen waren die Versicherungen seine Loyalität betreffend auch entsprechend scharf gewählt.
Die Bilder des Jungen, die er vor sich ausgebreitet hatte, zeigten ein etwa zwölfjähriges Kind mit strohblonden Haaren und riesigen, auffallend blauen Augen. Die Fotos, offensichtlich mit einem starken Teleobjektiv aufgenommen, ließen erkennen, dass der Junge von zarter Statur war, was sich auch in den feinen Gesichtszügen widerspiegelte. Es musste wohl die androgyne Ausstrahlung sein, die den Auftraggeber ansprach, vermutete Wellner, der wusste, dass dieser Junge für einen Kunden aus Saudi Arabien ausgesucht worden war. Wellner langte in die Brusttasche seines Hemdes, fischte die Packung Богатыри heraus und zündete sich eine der Zigaretten an. Packung und Benzinfeuerzeug warf er auf den Tisch. Innerhalb der nächsten zwei, drei Tage sollte Juri des Jungen habhaft werden, dann würden sie sich auf einer abseits gelegenen Straße weitab einer Behausung treffen und die Übergabe veranstalten. Das Prepaid Handy hatte er bereitgelegt. Um sechzehn Uhr war eines der Zeitfenster, um mit Juri Kontakt aufzunehmen. Sollte er dies nützen, würde er das Mobiltelefon irgendwo auf einem Parkplatz im Südschwarzwald einschalten und fragen, ob Juri schon bereit sei, die Ware zu übergeben. Bewusst hatte man einfachste Seniorenhandys gewählt, die weder über GPS verfügten noch in der Lage waren, über Schnickschnack wie Skype, Massenger oder WhatsApp zu kommunizieren. Wellner trat wieder ans Fenster. Vor seinem inneren Auge sah er sich mit Schneeschaufel und Sandblechen bewaffnet Wege ebnen, um mit dem Wagen eine Stelle im Nirgendwo aufzusuchen, nur damit er das Telefonat führen konnte. Missmutig blickte er auf das Handy. Hier würde er es gemäß den Anweisungen keinesfalls einschalten! Aber sein Entschluss stand fest. Er würde heute keinesfalls mehr das Haus verlassen. Der nächste Termin für ein Telefonat wäre übermorgen. Früh genug, um nachzufragen, wann er mit der Übergabe rechnen konnte! Also legte er das Handy zurück auf den Schreibtisch.
Stattdessen nahm er sich aus dem Stapel der Reispässe den thailändischen, klappte ihn auf und betrachtete Nerminas Bild. Mit dem Finger strich er über die Wange und den Mund und begann unwillkürlich, tiefer zu atmen. Und als sich unterhalb seines Gürtels etwas zu regen begann, legte er den Pass auf den Tisch und verließ den Raum in Richtung des Badezimmers.
„ Dann wollen wir unsJohn Doe mal ansehen“, sagte Dr. Schwarz nüchtern und trat an die Kühlfächer. „Schieben Sie bitte mal den Wagen dort herüber?“, bat er Thomas Bierman und öffnete die ihm nächstgelegene Edelstahltür. Der Polizist ging zu dem einige Meter entfernt stehenden Rollwagen, nahm kurz Maß und gab dem Gestell einen wohldosierten Tritt, der es in Richtung des wartenden Rechtsmediziners bewegte. Dieser machte einen Schritt zur Seite und beobachtete gespannt, wo das Gefährt wohl zum Stillstand kommen würde. Er schnalzte anerkennend mit der Zunge, als es exakt vor dem offenen Kühlfach fast genau senkrecht dazu aufhörte, sich zu bewegen. Sarah, die die Szene ungläubig beobachtete, schüttelte nur den Kopf und verdrehte die Augen. Das gezischte Männer war gerade noch laut genug, dass Thomas und der Arzt es hören mussten. Ohne sich davon beirren zu lassen, rückte Schwarz den Rollwagen die letzten Zentimeter zurecht und zog eine mit einem weißen Tuch abgedeckte Bahre auf das Transportmittel. Er schob den Leichnam neben den Obduktionstisch, nahm drei Gummischürzen von einem Kleiderhaken und griff nach einer Packung ellenbogenlanger Handschuhe. Er streckte die Schutzkleidung Sarah und Thomas entgegen.
„Wenn Sie mir bitte kurz zur Hand gehen würden?“, bat er, legte sich die verbleibende Schürze um und stülpte sich die Handschuhe über.
„Keine Sorge, der Leichnam ist bereits gewaschen. Es wird also keine allzu große Sauerei, wenn wir ihn rüberheben.“
Thomas nahm eine der Schürzen entgegen, legte sie an und warf Sarah, nachdem sie ebenfalls die Plastikbändel auf dem Rücken zu einer Schleife gebunden hatte, zwei der Handschuhe zu. Sie fing sie geschickt auf und blies, dem Beispiel ihrer Kollegen folgend, erst einmal hinein, bevor sie die Hände und Unterarme hineinsteckte.
„Fertig?“
Sie nahmen Aufstellung an dem Leichnam, Schwarz an den Füßen, Sarah am Kopf und Thomas auf Höhe der Hüfte.
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