Für den heutigen Morgen steht das Aufräumen des Projektlandes auf dem Plan. Es sind nur noch zwei Tage, bevor der Workshop beginnt. Doch bevor es an die Arbeit geht, trifft sich das Team im Küchengebäude zu einem der üppigsten Frühstücke, die ich je erlebt habe. Irgendjemand findet sich immer, der ungefragt einen Haufen Eier brät, eine andere bereitet frisches Obst zu. Pedro, der großartig kocht und seine Fähigkeiten zum Wohle aller während des Projektbetriebs einbringt, zaubert einen Schokoladenporridge. Von allem gibt es Unmengen.
Pedro ist Brasilianer und in den Favelas Rios aufgewachsen. Schon im letzten Jahr habe ich mitbekommen, dass er als Kind von seinem alkoholkranken Vater schlimm terrorisiert wurde. Damals erzählte er, dass er manchmal Schwierigkeiten hätte, Anteile seines Vaters nicht auf Christian zu projizieren. Dummerweise hieß auch sein Vater Christian, was für ihn eine scharfe Trennung der beiden Persönlichkeiten noch schwieriger zu machen scheint. Oberflächlich betrachtet ist Pedro ein liebevoller und glücklicher junger Mann. Doch ab und zu triggert irgendetwas seine Schattenseite und es öffnet sich ein dunkler Abgrund, aus dem es unbeherrscht und aggressiv brodelt. In solchen Momenten arbeitet er sein Vaterthema offen an Christian ab. Ihre Beziehung ist von einem extrem dynamischen Auf und Ab geprägt. Das bringt an manchen Tagen die Atmosphäre um sie herum zum Knistern und fühlt sich gar nicht gut an. An anderen Tagen wieder liegen sich die beiden in den Armen. Das ist überhaupt etwas, was im Mindfulness Project häufig zu beobachten ist. Es ist eine der wichtigsten Übungen, die zentrale Medizin. Im Projekt geht es um Heilung auf allen Ebenen. Heilung der unfruchtbaren thailändischen Erde und Heilung wunder Volontärseelen.
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, wie wichtig dabei körperliche Nähe ist. Eine Umarmung stimuliert Billionen Rezeptoren und schüttet das Kuschelhormon Oxytocin sowie das Glückshormon Serotonin aus. Stress wird gemildert, die Herzfrequenz sinkt, Angst wird reduziert, Vertrauen wächst. Und so krault hier schon morgens zwischen Porridge und Obstsalat jede jedem den Kopf, massiert und kuschelt. Das beste Ergebnis versprechen Umarmungen von mindestens 20 Sekunden Länge. Es ist so auffällig anders als in dem Leben, aus dem ich komme, dass es mir völlig unnatürlich erscheint. Ich habe Schwierigkeiten, mich darauf einzulassen. Für mich wirkt es geradezu befremdlich, dass alle acht Teammitglieder in einer Beziehung zueinander stehen und Zärtlichkeiten austauschen, wie es normalerweise nur Pärchen tun. In meiner Welt ist die Vorstellung, dass derartige Nähe mit einem Menschen meiner Geschlechtspräferenz in Sex mündet, fest verankert. Trotzdem probiere ich täglich von neuem, meine Grenzen zu lockern und so wird die gefühlte Ewigkeit, die das Frühstück jeden Morgen dauert, für mich zur Übungszeit.
Beim Abwasch des Geschirrs an der offenen Spüle neben dem Küchengebäude fällt mein Blick auf ein kleines Häuschen. Frieda, eine Volontärin aus Island meint, dass sich ein Badezimmer darin verbergen würde. Im ersten Moment scheint diese Entdeckung die Lösung für mein nächtliches Toilettenproblem. Doch als ich die Tür öffne, wird klar, dass der Raum schon Jahre keinen menschlichen Kontakt mehr hatte und sich höchstens zu Studienzwecken über Renaturierung eignet. Neben Undefinierbarem liegt auch eine tote Ratte in der Dusche, die als solche nicht mehr zu erkennen ist. Weder die Ratte, noch die Dusche. Hier zu putzen, geschweige denn die Toilette zu benutzen... das traue ich mich nicht. Es wird sich schon eine Lösung finden. Jetzt müssen wir erst einmal an die Arbeit, die Zeit läuft.
Beide Grundstücke liegen 15 Minuten zu Fuß oder fünf Minuten mit dem Motorrad voneinander entfernt. Eigentlich ein schöner Fußweg, wären die großen Hunde der anderen Bauern nicht. An manchen Tagen fangen sie dich mitten auf dem Weg ab und kommen im Rudel wild kläffend, die Zähne gefletscht von ihren Grundstücken angerannt. Vor einer Woche wurde eine Volontärin ins Bein gebissen, obwohl sie auf einem Motorrad fuhr. Sie trug eine blutende Wunde davon und hatte große Angst, sich mit Tollwut infiziert zu haben. Die Hunde sehen zwar ungepflegt und räudig aus, aber zum Glück ist ihre Befürchtung nicht eingetreten. Mit diesem Angriff haben die Köter aber deutlich gemacht, dass sie nicht bluffen. So wird jeder Fußweg zu einem Abenteuer und ein langer, stabiler Stock mein ständiger Begleiter.
Ein Rezept
Schokoladenporridge à la Pedro
Zutaten
120 g Haferflocken
200 ml Wasser
200 ml Mandelmilch
2 EL Kakaopulver
2 EL Ahornsirup
1 EL Cashewmus
Anleitung
1. Haferflocken, Wasser, Mandelmilch, Kakao und Ahornsirup in einen Topf geben und unter Rühren aufkochen. Hitze reduzieren, Cashewmus unterrühren.2. Porridge bei kleiner Hitze für ca. 5 Minuten köcheln lassen bis eine cremige Konsistenz entstanden ist.3. Porridge in zwei Schüsseln anrichten und nach Belieben mit Bananenstücken, Granatapfelkernen, Nüssen, Kakao Nibs und etwas Ahornsirup garnieren.
Guten Appetit!
Swami Atmas Kernkompetenz
Unser Retreat ist gleichzeitig auch Startschuss für die neue Projektsaison und es gibt eine Menge zu tun. Die offene Küche, die durch nichts geschützt wochenlang der Natur ausgeliefert war, ist Gretas und meine erste Aufgabe. In Hochzeiten wird hier für über vierzig Menschen gekocht. Wir schrubben, waschen und fegen, bis uns der Schweiß in bräunlichen Rinnsalen die Stirn hinunter läuft. Neben dem ganz normalen Naturschmutz, müssen wir leider auch den einen oder anderen Bewohner entfernen. Unter ihnen eine extrem große, fleischige Spinne ohne Haare mit glatter Haut. Sie trägt einen Kokon mit ihrer Brut unterm Bauch und hat sich tief in einem Faß eingenistet, das demnächst wieder eine Mülltonne sein wird. Allein sie anzuschauen, kostet Überwindung. Es ist eine Mischung aus urwüchsigem Ekel und Faszination. Niemand wagt es, sie in die Freiheit zu setzen und so legen wir die Tonne in die Begrünung des kleinen Sees, gleich neben der Küche und warten bis sie von allein einsieht, dass es Zeit ist umzuziehen. Nachdem das wenige Stunden später dann auch geschehen ist, landet die Tonne wieder als Müllplatz in der Küche. Wäre die Küche aus Edelstahl und nicht aus Spanplatten gebaut, würde sie jetzt blitzen und blinken. Nicht nur die Küche, auch wir sind fix und fertig. In der Nacht nutze ich den Garten, um mein Bedürfnis zu verrichten. Das erhoffte Wunder tritt leider nicht mehr ein. Ich habe wirklich eine Blasenentzündung und leihe mir ein Antibiotikum von Anja, dass der Entzündung die Spitze nimmt. Aber nur die Spitze. Das Gefühl bleibt, dass mit meiner Blase etwas nicht in Ordnung ist.
Dann ist es soweit und Christian fährt mit den Retreatteilnehmern vor. Das Projektland hat sich unter geeinter Kraft in ein wildes Paradies verwandelt. Es ist bereit, Heim für die auf der Ladefläche des Pick-ups sitzenden, eng aneinander geschmiegten jungen Menschen zu werden. Neun Frauen, ein Mann. Alle sehen von der Fahrt über die Autobahn zerzaust, aber voller Erwartung glücklich aus. Die nächsten acht Tage werden wir alle zusammen im sogenannten Dorm schlafen, einer großen Halle mit Lehmboden und halbhohen Wänden zu allen vier Seiten. Sie ist aus Baumstämmen konstruiert und zum Himmel hin mit einem Wellblechdach geschützt. Ihr Lehmboden ist jetzt mit Bastmatten bedeckt und von einer Taubespannung unter der Decke hängen bunte Moskitonetze, die die Schlafplätze voneinander trennen. Einen kurzen Fußweg durchs frisch geschorene Gras, runden zwei Toiletten und ein paar Eimerduschen das Hygienekonzept ab.
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