1 ...7 8 9 11 12 13 ...43 »So gieb vor, es sei eine Verwandte, vielleicht die Tochter unseres mit Kindern so reich gesegneten Vetters, die Du nach dem Verluste des eigenen Kindes an Kindesstatt angenommen habest,« versetzte Marie zögernd; denn ihr strenger Rechtlichkeitssinn kämpfte nur matt gegen die wachsende Theilnahme und Besorgniß für den kleinen fremden Gast. »Gewiß wird Niemand daran denken, Dein Wort zu bezweifeln und Nachforschungen anzustellen, und kommt später der wahre Sachverhalt wirklich zu Tage, so wird man unser Verfahren um unserer Trauer und unserer Liebe willen entschuldigen und nicht mehr auf eine Trennung dringen.«
»Wenn sie das Kind aber selbst fragen?« erwiderte Reichart, dessen Bedenken durch der Schwester Rathschläge bereits zum größten Theil beschwichtigt waren. »Und alt und verständig genug scheint es zu sein, um über sein Herkommen Aufschluß geben zu können.«
»Ja, das ist das Einzige, was mir Zweifel und Besorgniß einflößt,« entgegnete Marie sinnend, während die Augen der beiden Gatten gespannt an ihren Lippen hafteten. »Es scheint mir sündhaft, das arme Kind zu einer Lüge zu verleiten, und dennoch sehe ich keinen andern Ausweg, auf welchem wir es vor einem traurigen Loose zu bewahren vermöchten; und das liegt doch wohl auf der Hand, daß bei seiner Rückkehr in die Anstalt gewiß nicht die freundlichste Behandlung seiner harren würde.«
»Gewiß nicht, nein, gewiß nicht,« fiel die Bäuerin jetzt mit Wärme ein, »sie würden das arme Kind hinter dem Rücken des Herrn Seim zu Tode peinigen; nein, das Kind bleibt bei mir, und sollte ich deshalb hundert Lügen sagen! Ich werde das arme Herzchen schon vorbereiten und ihm seine Antworten in den Mund legen, ich werde ihm sagen, wie schändlich es sei, zu lügen, und daß es hier nur geschehe, um uns Verdruß zu ersparen. O, in diesem Falle ist eine Nothlüge keine Sünde, nein, gewiß nicht, viel eher eine gute, christliche Handlung!« So sprechend, erhob sie sich mit hastiger Bewegung, und auf den Zehen nach dem Bette hinschleichend, suchte sie einen Blick auf ihr neues Lieschen zu erhaschen.
Sie betrachtete das sanft schlummernde Kind eine Weile mit tiefer Wehmuth; gewiß stellte sie in Gedanken Vergleiche an, denn ihre Hände rangen sich krampfhaft in einander und heiße Thränen sanken in Fülle auf dieselben nieder.
Marie hatte ihre Arbeit beendigt und vor sich auf den Tisch gelegt; auch in ihren schönen, wohlwollenden Augen glänzten Thränen, indem sie abwechselnd das fertige Sterbekleidchen und ihren Bruder betrachtete, dessen Blicke wieder starr auf die zierlich ausgezackte Leinwand gerichtet waren.
Da schlug die Uhr die zwölfte Stunde. Eintönig hallten die halb schnarrenden, halb klingenden Schläge durch das Gemach.
»Sie hätten Beide neben einander Platz gehabt!« seufzte die Frau, indem sie an den Tisch zurückkehrte.
»Tröste Dich, Mutter,« versetzte Reichart, sich mit Macht emporraffend, »eine Tochter hat uns der liebe Gott genommen, eine andere hat er uns gegeben; mag kommen, was da wolle, sie soll so gut unser Kind sein, als ob es unser leibliches wäre. Und wenn es gut einschlägt, und uns liebt, soll es auch unsern Namen führen und uns beerben, damit wir wenigstens wissen, für wen wir schaffen und arbeiten.«
Marie sah mit innigem Wohlgefallen auf die biederen Leute hin, wie sie durch einen warmen Händedruck über des schlafenden Kindes Zukunft entschieden.
Sie blickte auf dieselben, wie wohl eine Mutter sich über die hervortretenden guten Eigenschaften ihrer Kleinen freut. In ihren schönen Augen sprach sich deutlich ihre geistige Ueberlegenheit aus, in den wohlwollenden Zügen dagegen ihre unendliche Herzensgüte und wie durch herben Kummer ihre höhere Ausbildung veredelt worden sei und sie dieselbe nur als Mittel betrachte, um so nachdrücklicher für das Wohl nicht nur der ihr nahe stehenden Personen, sondern für alle Mitmenschen wirken zu können.
»Aber gehe jetzt schlafen,« wendete Reichart sich endlich an seine Schwester, »morgen ist auch noch ein Tag, und zwar ein recht schwerer für uns, und Du mußt sehr müde sein. Meine Frau wird sich auf den Rand des Bettes zu Lieschen legen und über das liebe Kind wachen; ich selbst bedarf weiter nichts zur Ruhe, als den Lehnstuhl beim Ofen.«
»Gute Nacht denn,« sagte Marie freundlich, den beiden Gatten die Hand reichend; denn obgleich sie fühlte, daß der Schlaf ihr noch lange fern bleiben würde, hoffte sie doch in ihrer liebevollen Fürsorge für Andere, daß nach ihrer Entfernung wenigstens ihre Schwägerin, von Erschöpfung übermannt, im Schlummer einige Stunden Vergessenheit für ihren Kummer finden würde.
Nachdem sie ein Nachtlämpchen angezündet, begab sie sich noch einmal an das Himmelbett. Wohl eine Minute lang betrachtete sie das ruhig und sanft schlummernde Kind mit tiefem Nachdenken.
»Lieber Engel,« flüsterte sie leise, fast unbewußt, »wie Du mich an Jemanden erinnerst, doch weiß ich nicht, an wen!?«
Da lächelte das Kind im Traume; auch über Mariens gutes Antlitz flog ein heller, freundlicher Schimmer bei dem holden Anblicke. »Schlafe wohl!« sagte sie noch einmal lauter, und geräuschlos schlich sie in ihre Kammer zu dem todten Lieschen.
Nach Mariens Entfernung, blieben die beiden Gatten noch eine Weile schweigend neben einander sitzen. Es war nicht schwer zu errathen, was ihre Gemüther so tief bewegte, ihren Augen einen bald kummervollen, bald tröstlichen Ausdruck verlieh.
»Mutter, Du darfst nicht die ganze Nacht hier sitzen bleiben,« brach Reichart endlich das Schweigen, indem er die Lampe umkehrte, so daß der Schatten des Oelbehälters sein Gesicht traf, »begieb Dich daher zur Ruhe; sieh, auch ich will versuchen zu schlafen.«
»Ich kann nicht schlafen,« entgegnete die Frau mit unterdrückter Stimme, einen besorgten Seitenblick nach der Himmelbettstelle hinübersendend, von woher die regelmäßigen und gesunden Athemzüge des Kindes sich deutlich vernehmen ließen. »Warum sollte ich mich also hinlegen? Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich wache und über Alles nachdenke.«
»Aber Du solltest gerade nicht so viel nachdenken; es wäre besser, Du legtest Dich hin, und wenn man liegt, kommt der Schlaf ganz von selbst.«
»Bei mir nicht,« versetzte die Bäuerin traurig, »mir geht es gerade so wie unserer Marie; früher konnte ich nicht begreifen, warum das Mädchen die Nächte so oft schlaflos verbringe. Ich dachte, das sei so Sitte bei den vornehmen Leuten und sie habe es bei diesen gelernt, oder sie trauere heimlich, weil sie wieder Bauermädchen geworden. Jetzt sehe ich es aber ein, und ich fühle, wie schrecklich es ist, vor Herzeleid die Augen nicht schließen zu können.«
»Ja, die arme Marie hat viel Herzeleid gehabt,« bemerkte Reichart ernst, wie zustimmend nickend, »viel, viel unverdientes Herzeleid, denn sie ist von Kindesbeinen an immer ein gutes Mädchen gewesen und dabei so heiter und vergnügt, daß alle Menschen sich darüber freuten. Ja, ja, es war kein Segen für sie, daß sie so frühzeitig nach der Stadt kam und so viel lernte. Hätte sie das elterliche Haus nie verlassen, sie wäre dann gewiß eine brave und auch eine reiche Bauerfrau geworden, anstatt daß sie jetzt alle Freier zurückweist.«
»Ich gönne ihr wohl einen braven Mann,« erwiderte die Bäuerin aufrichtig, »allein es würde mir doch sehr schwer werden, mich von ihr zu trennen. Sie liebte unser Lieschen über alle Beschreibung, und dann habe ich mich so sehr an ihren Rath gewöhnt, daß ich nicht wüßte, wie ich es ohne sie machen sollte. Daß sie so viel mehr gelernt hat, als wir, merkt man wohl an jedem Worte, das sie spricht; aber es thut doch nicht weh.«
»Es ist wahr, auch ich weiß nicht, wie wir ohne Marie fertig werden sollten, und dabei nimmt sie nicht den geringsten Lohn für ihre Hülfe an,« versetzte Reichart.
Читать дальше