Kamir zog die Stirn in Falten und schüttelte verständnislos den Kopf. „Was ist los mit ihr? Sie ist noch ein kleines Mädchen. Sie kann das alles doch unmöglich ernst genommen haben.“
Ismee lächelte ihr bezauberndes Lächeln und legte ihm eine Hand an die Wange. „Da täuscht du dich, mein Lieber. Auch im Herzen eines kleinen Mädchens kann schon die Liebe der späteren Frau reifen. Für Lina ist gerade ihre Zukunft zerstört worden. Sie war sich so sicher, dass sie irgendwann deine Frau sein würde. Zeit spielt für sie noch keine Rolle. Und wenn du ehrlich bist, gehörst du wirklich noch nicht zu den Greisen, wenn sie eines Tages ins heiratsfähige Alter kommt. - Das hat sie sich übrigens schon ausgerechnet. Aber trotz allem solltest du dich davon jetzt nicht einschüchtern lassen. Sie muss und wird begreifen, dass im Leben nicht alles so läuft, wie sie sich das vorstellt. Also geh jetzt zu deiner Braut und genieße deine Verlobungszeit. Um Linas gebrochenes Herz kümmere ich mich.“ Mit sanfter Gewalt schob sie ihn zur Tür und brachte ihn zum Gehen.
Dann machte sie sich auf, um Lina zu suchen. Sie fand sie in ihrem Zimmer, zusammengerollt neben dem Bett. Das Mädchen wimmerte laut und zuckte dabei heftig. Ismee ließ sich neben sie auf den Boden sinken und legte ihr die Hand auf das braune Haar. Mit einem heftigen Schluchzen warf sich das Kind in ihre Arme. Eine Weile strich Ismee ihrer Tochter nur sanft über den Kopf. Es zerriss ihr fast das Herz, sie so zu sehen.
„Lina, du darfst Kamir nicht hassen, nur weil er sich verliebt hat. Und auch Sarah hat nichts getan, das dieses Gefühl rechtfertigt. Dein Schmerz tut mir leid. Aber aus verletztem Stolz heraus, sollte man niemanden hassen. Und wenn du ehrlich bist, hast du Kamir immer noch lieb. Er dich übrigens auch. Kamir ist nun mal ein erwachsener Mann und du ein kleines Mädchen. Wenn du älter bist, lachst du darüber und wirst mit deinem Traumprinzen vor den Altar treten und glücklich 'Ja' sagen. Aber bis dahin ist es noch eine lange Zeit. Mach dir dein kleines Herz noch nicht mit solchen Dingen schwer!“ Lina hörte schließlich mit dem Weinen auf.
„Ich werde keinen anderen heiraten! Niemals!“, flüsterte sie mit entschlossener Stimme. Sie gab ihre kindliche Hoffnung nicht auf, Kamir eines Tages doch noch zum Mann zu bekommen. Doch davon sagte sie ihrer Mutter nichts. Die Erwachsenen nahmen sie nicht ernst. Das hatte sie heute wieder zu spüren bekommen. Sie nahm sich vor, mit keinem mehr jemals über diese Dinge zu reden.
Die Hochzeit fand drei Monate später statt. Die Trauung war für die Mittagszeit angesetzt. Der traditionelle Gang zum Tempel entfiel, da Kamir nur Farids Halbruder war und dieser die jahrhundertealte Tradition eh abgeschafft hatte. Kamir stand am Fenster und hielt sein Gesicht in die Strahlen der Vormittagssonne. Er genoss deren angenehme Wärme und dachte an seine Braut. Bei dem Gedanken, sie in der kommenden Nacht endlich ganz besitzen zu können, hoben sich automatisch seine Mundwinkel. Ja, er war glücklich!
Nur eines trübte seine Vorfreude erheblich: Lina hatte, seit dem Vorfall in Ismees Gemächern, kein Wort mehr mit ihm geredet. Zwar spürte er die Blicke des kleinen Mädchens, wenn sie meinte, sie blieben unbemerkt, doch immer wenn er Lina ansprechen wollte, lief sie davon. Er musste sich unbedingt mit ihr aussöhnen, bevor er zum Altar schritt. Sie war einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben und das wollte er ihr noch einmal sagen.
Entschlossen machte er sich auf den Weg. Er fand sie schließlich, wie erwartet, an ihrem Lieblingsplatz auf den Wehranlagen. Dort saß sie mit angezogenen Beinen zwischen den Zinnen des Wehrganges. Diese waren breit genug, dass sie dort Platz fand, ohne zu dicht am Abgrund zu sitzen. Ismee durfte nicht wissen, dass Lina sich über ihr Verbot hinwegsetzte und noch immer sehr oft hier war. Leise schlich er an sie heran. Trotz des schönen Wetters wehte eine ordentliche Brise. Die Beflaggung machte knatternde Geräusche, weshalb sie ihn erst hörte, als er sie ansprach.
„Wie lange willst du noch vor mir davonlaufen?“, fragte er.
Sie sah demonstrativ in die Ferne und ignorierte ihn, wie immer.
„In wenigen Stunden ist meine Hochzeit. Mein größter Wunsch ist es, dass alle Menschen, die ich liebe, daran teilhaben. Wenn du nicht kommst, wird es niemals der Tag werden, den ich mir erträumt habe. Du bist mir wichtig! Ich heirate Sarah, aber du bist meine beste Freundin und ich hoffe, dass du das auch weiterhin bleibst. Und glaube mir, Freundschaften halten oft länger als jede Liebe.“ Er hielt ihr die Hand hin, doch sie blieb stur. „Wie du willst!“, sagte er leise und seine Enttäuschung war ihm deutlich anzuhören. Er wandte sich ab und ließ sie allein.
Als er später am Altar stand und seinen Blick erwartungsvoll über die Gäste in der Halle schweifen ließ, sah er, dass der Platz neben Ismee noch leer war. Sie saß mit Farid auf einem Zwischenpodest, das der königlichen Familie vorbehalten war. Lina fehlte. Ismee sah sich immer wieder um und zuckte missmutig mit den Schultern. Dann, in letzter Sekunde, eilte Kamirs beste Freundin zwischen den wartenden Menschen hindurch nach vorn. Unter dem erleichterten, aber dennoch tadelnden Blick ihrer Mutter, setzte sich das Mädchen auf seinen Platz. Nur kurz zuckten ihre Augen zu Kamir hinüber, doch das genügte ihm als Friedensangebot oder wenigstens als Waffenstillstand. Ihm war klar, dass dieses stolze Geschöpf eher die Strafe ihrer Mutter auf sich genommen hätte, als unfreiwillig hier zu sein. Sie sah sehr hübsch aus, obwohl sie sich in aller Eile fertig gemacht hatte. Wenn sie eines Tages erwachsen wäre, würde sie sicher sehr schön sein. Dann würde er, gemeinsam mit Sarah und ihren drei oder vier Kindern, zusehen, wie Lina ihrem glücklichen Ehemann zugeführt wurde. Doch den wollte Kamir zuvor auf Herz und Nieren prüfen.
Jetzt fehlte nur noch Sarah.
Und da war sie auch schon. Die wartende Menge hatte eine breite Gasse freigehalten, durch die sie von ihrem Vater geführt wurde. Sie war atemberaubend schön und Kamir musste bei ihrem Anblick schlucken. Sie trug ein weißes Kleid, das dezent mit silbernen Stickereien verziert war. Es war schlicht geschnitten und zeigte nur wenig Dekolleté, dennoch wirkte sie wie die Versuchung selbst auf Kamir. Ihr schwarzes Haar war sorgfältig aufgesteckt und wurde von vielen kleinen Diamanten verziert.
Sie blickte demütig zu Boden, ganz wie es der Brauch von einer keuschen Braut verlangte. Erst als sie fast bei Kamir angelangt war und nur er in ihr Gesicht sehen konnte, verwandelte ihr Blick sich in pure Liebe. Eine heiße Welle der Zuneigung durchlief seinen Körper. Voller Dankbarkeit nahm er die Hand seiner Braut aus der ihres Vaters und konnte es kaum erwarten, dass sie den göttlichen Segen erhielten.
Nach dem öffentlichen Akt schritten die jungen Eheleute, Seite an Seite, durch den Gang nach draußen. Dort hatten sich Kamirs Männer versammelt und zu einem Spalier aufgestellt. Das Paar ging unter den gezückten Säbeln hindurch und dankte ihnen für die erwiesene Ehre.
Dann wurde festlich getafelt und gefeiert. Die Köche hatten sich selbst übertroffen. Es gab alles, was das Herz begehrte.
Nach dem Abendessen eröffneten sie den Ball. Während einer Tanzpause entdeckte Kamir Lina, die in der hintersten Ecke des Saales saß und missmutig das Treiben beobachtete. Er ging zu ihr und stellte sich eine Weile schweigend neben sie. Ohne sie dabei anzusehen, sagte er: „Schön, dass du es dir doch noch überlegt hast. Das werde ich dir nie vergessen.“ Nun sah er sie doch an und ging auf die Knie. „Freunde, für immer?“, fragte er leise. Statt eine Antwort zu geben, erwiderte sie seinen Blick mit großen Augen, in denen Tränen schimmerten. Plötzlich fiel sie ihm euphorisch um den Hals und klammerte sich fest an ihn. „Für immer und ewig!“, flüsterte sie zurück. Er nahm sie erleichtert in seine Arme und strich ihr übers Haar.
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