Jedenfalls, da die Stadt ein kuscheliges Kultur- und Kunstleben betreibt, dort wo die Bibliothek sowohl von Schülern als auch von Bürgern genutzt wird, solltest du dich mit etwas außerhalb deines Zuständigkeitsgebietes beschäftigen, nur keine Bange, denn das wird hier irgendwie zum Beruf.
Hier wussten sie alle, dass sich Vera, Busch Breitfelders Tochter, in den Sohn des Polizeichefs verliebt hatte. Sie verlangten auch, die Wahrheit bekannt zu geben, wie es Nuria Zeynepe Idriza, die Brotverkäuferin, geschafft hatte, erst nach fünfzehn Jahren Ehe schwanger zu werden. Also, ob ihr Ehemann, Recep-Muharrem Avdylrrahman, sie geschwängert habe - allerdings über ihn wurde längst erzählt, dass er in diesem Aspekt nicht fähig sei - oder der Brotfahrer, Ehud Isidor Stern, mit dem sie sich in dem Laden eingeschlossen hatte, unter dem Vorwand: Den Tagesplan besser koordinieren zu wollen.
Es wird auch diskutiert, ob und wie sich die Beziehung zwischen der Schulleitung des Gymnasiums und dem Bildungschef entwickelt hätte. Das Verhältnis zwischen den Beiden war dermaßen kristallisiert, weil der Schulleiter im Fach Physik, der einzigen Tochter des Chefs eine Zwei gegeben hatte.
Über die Verhältnisse zwischen Giuseppe und Dutz Assimilchen diskutierte keiner. Die Zwei waren seit Ultimo miteinander verbunden und keiner von den Beiden wagte den Schritt sich zu verloben. Sie waren der Überzeugung, dass danach die Ehefrauen und Kinder die höchste Priorität hätten, und demzufolge ihre Freundschaft in Vergessenheit geriet.
Anders war der Stand der Dinge bei Flora und Mark. Für die ganze Stadt galten sie als Mann und Frau, nur sie lebten nicht zusammen. Marks Mutter hatte ihre Verwarnung ausgesprochen, dass nur erst wenn ihr Sarg abtransportiert werden würde, Frank Sprinters Tochter in ihrem Zuhause als Braut eintreffen dürfe. Sie hatte es so häufig zum Ausdruck gebracht, dass sie sich nicht einmal vorstellen konnte, seine Tochter durch ihre Tür rein zu lassen, während ihr Vater, Frank, mit seinem Sprinter von Tür zu Tür fuhr und die Toiletten und Abflüsse von den privaten Häusern reinigte. Der Mutter war die Tatsache gleichgültig, dass unter dem Klang ihres hartnäckigen Klaviers, Mark und Flora am Ende der Straße mit Küssen beschäftigt sein könnten. Dennoch, eine familiäre Beziehung, mit Frank, würde sie nie im Leben zulassen.
Mit Sicherheit in einer großen Stadt wie Berlin, würden solche Ereignisse spurlos in Vergessenheit geraten und kaum eine derartige Neugier auslösen. In W. aber, die sarkastisch auch als „Regenloch“ tituliert wird, dort wo häufig die Sonne mit dem Ritual der Ereignisse auf- und untergeht, haben sie einen besonderen Effekt.
Das Ganze lernte ich kennen, während ich einen Kaffee trank, den mir Busch ausgegeben hatte, ein Mitarbeiter unserer Zeitung. Nun hatte ich es geschafft, mir auch einige Gesichter einzuprägen.
Mark hatte eine schwarze Narbe an der Wange, und es war leicht, ihn nicht mit den Anderen zu verwechseln. Jedoch Ehud Isidor Stern hatte keine Besonderheit aufzuweisen. Schon möglich, dass er etwas Derartiges im Versteck hatte, abgesehen davon, dass Nuria Zeynepe Idriza sich beim Brote zählen so schlimm verzählt hatte. Während dessen spazierten Giuseppe und Dutz bis zum Sonnenuntergang ohne jegliche Gesellschaft. Und in der Zeit, wenn die Anderen nach Hause gingen, besetzten die Beiden den Tisch in Giacome Gianones Restaurant, denselben Tisch, wo sie schon seit fünfzehn Jahren getrunken haben.
Sicherlich gelang es mir nicht, schon am ersten Tag Vera mit dem Sohn des Polizeichefs zu sehen. So wie es aussah, warteten sie bis die Nacht sich breit machte, um sich endlich irgendwo am Rande hinter den Appartements zu treffen.
Es war mein erstes Mal, dass ich diese Stadt besuchte. Als Journalist, wäre ich in der Lage hunderte von Geschichten zu hören, überzeugt davon, dass ich morgen oder übermorgen, woher soll ich genau wissen wann, mir eine davon zu Gemüte führen und selber nutzen würde. Der Chef meiner Redaktion hatte insbesondere uns jungen Journalisten empfohlen, jedes Ereignis „anzuziehen“ - wie er sich ausdrückte -, weil ein Journalist im Leben mit einem Magneten oder einem Geheimagenten zu vergleichen ist.
Mit Busch, dem Mitarbeiter, wechselten wir vom Café aus in ein Restaurant, und dort hatte er eine nette Überraschung für mich uns vorbereitet. Von irgendwoher hatte er eine Forelle klargemacht und stellte sie vor uns hin.
„Es ist eine Seeforelle.“, sagte er zu mir. „Ich habe sie heute beim Angeln gesichert. Da ich Giacome gut kenne, überließ ich es ihm, sie hier im Lokal für uns zuzubereiten. Ich weiß, dass für euch Berliner, dies eher eine seltsame Sache ist.“
Busch schien sich äußerst gut mit dem Schnaps zu verstehen. Er trank mit Genuss und nicht wie in unserer Gegend mit einem Schluck. Dazu strahlte er Freude aus, beim Zuhören oder auch unterschiedliche Geschichten und Ereignisse zu erzählen. Jene Geschichten waren mit einer unendlichen Chronik zu identifizieren. Während den wenigen Stunden des Zusammenseins, die wir hatten, gleich wie das Skelett aus der Forelle, holte er das Skelett aus seiner eigenen Stadt raus.
Möglicherweise wegen des weiten Weges von Berlin aus, möglicherweise wegen der freigelassenen Dunstwölkchen und der Wärme des Lokals, formten meine Augen regelrechte Weite.
„Du bist müde.“, sagte er zu mir.
„Nein“, sagte ich, „dass mag nur so rüberkommen.“
Zwischenzeitlich ging die Tür des Restaurants auf und Flora und Mark traten ein. Sie setzten sich an ihren Tisch neben dem Fenster. In der Mitte des Tisches stand ein Strauß mit Rosen.
„Frau Duden ist angetan von Blumen.“, sagte Busch zu mir, überzeugt davon, dass mir die Rosen einen Eindruck beschert haben müssten. „Mark bringt sie täglich mit.“
Irgendwie wollten es meine Augen und landeten mit einem Blick auf die Beiden. Flora und auch Mark, voller Toleranz, widmeten mir eine Begrüßung und anschließend schauten sie einander in die Augen.
Flora musste immerschon hübsch gewesen sein, sehr hübsch. Selbst jetzt, während sie - laut Busch - auf die Vierzig zuging, strahlte sie eine auffallende Frische aus, wegen der auch eine Dreißigjährige neidisch werden könnte. Ihre Augen verfügten über eine besondere Lebendigkeit. Mark, mit dem Körper eines Leistungssportlers ausgestattet, ging sehr sparsam mit den Bewegungen um, die er machte. Er, ein Mensch, für den die gesamte Welt nur über einen Namen verfügte: Flora. Selbst wenn fast jeder sich bei ihm und Flora in Verbindung mit der banalen Geschichte der Ablehnung seiner Mutter vorstellig machte und ihn fragte, ob er sich dabei nicht wie eingeklemmt fühlte. Er war sich jedoch sicher, dass hinterher jeder von ihnen - wenn’s darum ging „das Menschlich sein“ zu definieren -, ihm recht geben würde.
„Wie alt ist diese Geschichte?“, fragte ich den Busch.
„Älter als zwanzig Jahre vielleicht. Mark hat Sport in dem Gymnasium unterrichtet, Flora war Schülerin in der Wirtschaftsschule. In einer Veranstaltung lernten sie sich kennen. Dort hatten sie einander das Wort gegeben. Doch Mark hat immer wieder gewartet. Erst als sie das Abitur abgeschlossen hatte, ging er zu seiner Mutter. Die Mutter, oder Frau Duden, wie sie alle nannten, ein äußerst sensibler Mensch, verlangte von ihrem Sohn ein Foto von ihr. Gleich als sie Flora sah, konnte sie sich vor lauter Freude nicht beherrschen. Floras Augen, voll mit Leben und Licht betankt, die Augenbrauen und die Löcher, die sich an ihren beiden Wangen formten, bescherten ihr eine selten begegnende Ausstrahlung. Als Frau Duden jedoch erfuhr wessen Tochter sie war, wurde sie wie ein graues Meer während der Flut.
Sie fühlte sich wie ein nichtakkordiertes Klavier und gab ihren Schwur ab, dass sie nie im Leben eine familiäre Beziehung mit Frank zu Stande kommen lassen würde. Mark, wie auch Flora, waren jung und widmeten derartiger wild-ausgesprochener Ablehnung keine besondere Aufmerksamkeit. Sie lebten mit den Küssen, die sie einander abends gaben, häufig unter dem Vordach von Marks Haus, häufig auch unter den Klängen einer Sonate, die zwischen den Fingern und der Seele von Marks Mutter, wie ein Wasserfall floss. Sie glaubten daran, dass eine empfindsame Seele, wie die ihre, eines Tages von ihrer unendlichen Liebe geknackt würde und, dass Frau Duden ihnen die Tür ihres Herzen aufmachen würde. Nun mal Frau Duden, von Natur aus eine strenge und seriöse Frau, lebte mit ihre Künstlerseele, die die von Beethoven, List und Strauß übertraf, und sie hatte kaum vor eine Beziehungsmissionarin zu werden und selbst mit einer „Etüde Funebre“ den Fäkaliensprinter von Frank, Floras Vater, zu begleiten. Sie spürte eine tiefe Enttäuschung, eine sehr tiefe, als sie daran denken musste, wessen Tochter Flora war. In welchem übermäßig vulgären Ambiente sie aufgewachsen und wie es möglich war, dass ihr Sohn hinter ihr her schlich. Vielleicht wollte Mark sich auch nicht so verhalten - wie es viele junge Leute taten -, und so das Herz seiner Mutter verletzen, indem er Flora als abgeschlossenen Akt mit nach Hause brachte. Nicht nur aufgrund seiner Bescheidenheit, sondern auch weil seine Mutter seit Jahren an einem kranken Herz litt, und er stets äußerst vorsichtig damit umging, um ihr keine harten Aufregungen zu bescheren.
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