Es waren nicht die zu erwartenden Gefahren, die sie bislang von einer Erkundung der Singala abgehalten hatte – nicht die Kreaturen Suäl Graals, die ja nach Meinung eines jeden Asimielenen mit Sicherheit auch an diesem Ort ihr Unwesen trieben. Es war vielmehr die unendliche Öde dieses Ortes, die ihnen bis zu dieser Zeit unüberwindlich erschien. Die Singala verweigerte jede Art der Orientierung – kannte keinen Punkt, dass dem Auge eine Abwechslung, und dem Geist einen neuen Gedanken bot. Die Öde des Äußeren hätte sich augenblicklich in ihr Innerstes hineinfressen und jeden Gedanken darin ausgelöscht. Eine Gefahr, die selbstverständlich nach wie vor bestand.
Nun aber war es das Wagnis wert, einen Weg dort hinein zu finden. Es war eine Zeit angebrochen, die bislang nicht gedacht werden konnte – eine Neue und besondere Zeit, die von Habadam, dem Chemuren und Regenten dieses Droms einem Samen gleich in ihre Köpfe gepflanzt, jedes Wagnis rechtfertigte. Eine solche Zeit – ein solcher Samen – kreiert neue Gedanken und damit neue Möglichkeiten. So hatten sie endlich eine Vorstellung davon, wie sie es wagen konnten.
Kilak holte ausgiebig Luft, bevor er lauthals über die Menge schrie. „Die Karren und Wagen in die Mitte – verhaltet euch angemessen zu euren Positionen ... .Und das niemand von euch aus der Reihe tanzt!“
~*~
Die Luft vibrierte, und die obere Schicht des feinen Sandes auf dem Boden führte einen hektischen Tanz auf – dirigiert von den starken Schwingungen eines abgrundtiefen Tones, der die Atmosphäre erfüllte. Obwohl kein Ohr seine Herkunft zu bestimmen im Stande wäre, war seine Ursache doch offenbar.
Ein großes, pyramidenförmiges Gebilde, schwärzer als die dunkelste Nacht – glatt und matt seine Flächen, das selbst die scharfen Kanten in seinen Winkeln vom gleißenden Licht der hohen Sonne für das suchende Auge nur gerade erahnbar waren, musste seine Ursache sein.
In respektvollem Abstand vor dieser Erscheinung saß eine bizarre Gestalt auf seinem gepanzerten Reittier. Seine mächtiges Äußeres – gehüllt in zerschlissene, farblose und weite Tücher, die aus den Überresten einer Rüstung hervorquollen wie die losen Hautfetzen eines gemarterten Körpers, hielt eine Lanze, unter dessen Spitze, zwischen einigen dort befestigten Bändern, verblichene Schädel hingen. Ihre wenigen verbliebenen Haare wurden vom leichten Wind bewegt – einem Wind, der hier in den Weiten der Singala ebenso außergewöhnlich war, wie der alles erschütternde dunkle Ton, der nun über der Öde lag.
Das breite, grau-fahle Gesicht der mächtigen Gestalt mit seinen pupillenlosen roten Augen war unbewegt auf die alles beherrschende Pyramide ausgerichtet.
Ebenso bewegungslos stand unweit hinter ihm ein Meer von Reitern, deren Äußeres sich von der ersteren Gestalt kaum unterschied. Ihnen fehlte die Rüstung – wenn man denn die vereinzelten und notdürftig zusammengehaltenen Metallplatten am Körper des Ersteren als eine solche bezeichnen wollte. Er erschien vielleicht noch um einiges größer und furchterregender als seine Artgenossen – aber das konnte auch nur die Suggestion seiner Haltung sein, die diesen Eindruck erweckte. Es war auf jeden Fall unverkennbar, das er der Führer dieses Heeres war ...
„Und als das große Wasser
In dem das Geschöpf Gala erkannte,
Versunken,
Und nicht mehr Gala war,
Da war Singala an seiner Stellen!“
Die sich mehrstimmig überlagernde Stimme, die in diesem Augenblick den tiefen Dauerton unterbrach, als würde sie sich aus ihm heraus formen, um nach dem Ende jeden Satzes wieder in ihn zurückzukehren, war so wenig in seiner Herkunft zu bestimmen, wie der dunkle Dauerton, der sofort wieder jede Pause der Stimme füllte ...
„So hat die Zeit
Das in ihr Verborgene
Offenbart,
Wie alles Verborgene offenbart sein muss
In der Zeit.
Denn so spricht Suäl Graal,
Und so ist es entschieden!
In jener Zeit nun,
Da Gala nicht,
Und Singala war,
Da schuf ich den Hyndriden –
Euch!
Um zu wachen
Über das nun nicht mehr Verborgene.
Um zu wachen
Über das nun nicht mehr Verborgene
In den kommenden Zeiten.
Ausgestattet mit der List der Wandlung
Und der Kraft des Verachtenden,
Ist nun die Zeit, das Offenbarte –
Ist nun die Zeit, die Heilige Tafel
Zu bewahren.
Zu bewahren vor jener Macht,
Die der ewigen Dunkelheit entwich,
Die Große Ordnung Suäl Graals zu stören.
Schon hat sie Gedanken erschaffen
In den Geschöpfen dieses Droms.
Gedanken wider der Ordnung.
Gedanken wider der Furcht meiner Macht.
Gedanken, beseelt zu forschen
Nach dem Entschleierten,
Um es sich dienbar zu machen
Wider der Ordnung Suäl Graals.
Es ist nun eine Zeit,
Da das Unbeugsame,
Unterschieden in Zeit und Ort,
Einzudringen wagt
In die Singala.
So ist nun die Zeit
Zu bewahren,
Was Suäl Graals ist.
Wie es euch bestimmt war von Anbeginn!“
„Wer ist die Macht, die es wagen kann, dir zu begegnen?“ Die gewaltige Stimme des Anführers des Heeres zerriss die vibrierende Luft.
„Hyndride! Du bist nicht gemacht, Fragen zu stellen!“
Eine unüberhörbare Drohung lag in den Worten, die die mächtige Stimme des Hyndriden überlagerte und für einen Moment zum verstummen brachte.
„So gib uns mehr Augenlicht, damit wir auch in der Nacht deinen Feind erkennen!“, hob er erneut an.
„Nein!“, donnerte der Himmel.
„Die Nacht bewahrt,
Das unerkannt sein muss
Für Deinesgleichen!
Denn das Dunkel ist die Mutter der Zeit,
Deren Sohn nach dem Erkennen strebt.
Du bist nicht gemacht
Zu erkennen!
Geschaffen habe ich dich,
Was der Dunkelheit entrissen
Zu bewahren -
oder zu zerstören
Wo es sich gegen mich erhebt.
Denn ich bin das Dunkel,
Bewahrend darin
Das nach dem Lichte strebt –
Trachtend,
Das Geordnete zu stören.
So spricht Suäl Graal!
Sucht und vernichtet also
Die es wagen
Die Singala zu stören.
Die es wagen
Ihr zu nehmen,
Was ich, Suäl Graal
ihr bestimmt habe!“
Ohne jede Ankündigung endete plötzlich das tiefe, und alles beherrschende Summen.
Für einen Augenblick noch stand die dunkle Pyramide still und unangepasst, als ein bizarrer Fremdkörper in der Öden Weite – dann war auch sie in der Zeit eines Wimpernschlages verschwunden.
Erst jetzt begann sich die zerschlissene Gestalt etwas zu Bewegen. Sein Kopf drehte sich langsam, und seine pupillenlosen, roten Augen schienen die Weite der Singala zu durchwandern – als suchte er in ihr etwas.
Das Heer würde sich aufteilen müssen, um in ihr nach dem zu suchen, was es zu finden galt ...
~*~
Das Erste, dass Kishou bemerkte, bevor sich noch all ihre Sinne dem neuen Land zuwenden konnten, war so allerweltsnormal, das sie eigentlich meinen wollte, es nie vermisst zu haben – wäre da nicht die große Überraschung über dieses vermeintlich Gewöhnliche: Wind!
Sie waren schon ein Stück weit ins Land hineingegangen, aber Kishou war noch immer mit ihren Gedanken zu sehr verhaftet im Zweiten Tal der Zweiten Ebene des Zweiten Droms, und seinem erst kürzlich entronnenen ,Tal der Fügung’ – und natürlich nicht zuletzt bei dem zurückgelassenen treuen Kurluk – um das Neue in sich aufzunehmen.
Ungläubig breite sie nun die Arme aus, und ließ den seichten Zug des Windes durch ihre gespreizten Finger gleiten ... Sie war stehen geblieben und schaute mit staunenden Augen zu Mo hinauf. „Wind!?“, sagte sie mit großer Verwunderung in der Stimme.
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