Der Inspektor meldete sich zu Wort. Erst jetzt betrachtete Tina den schmächtigen Mann mit der braunen Stoffhose und dem leicht zerknitterten Hemd. Sein Blick traf sie eiskalt und musterte jede ihrer Bewegungen. „Frau Schubert, ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden. Auf einigen dieser dubiosen Überweisungen befindet sich auch Ihre Unterschrift und wir müssen nun klären, inwieweit Sie in diese Machenschaften verstrickt sind.“
„Welche Machenschaften? Welche Unterschriften? Ich schwöre, dass ich nichts damit zu tun habe!“ Tina schrie fast verzweifelt. Was wollte man ihr da unterstellen? „Ich höre heute das erste Mal von derartigen Überweisungen. Darf ich sie bitte sehen? Vielleicht klärt sich ja doch noch einiges auf.“
„Diese Überweisungen sind bereits bei unseren Spezialisten in der Informatikabteilung. Sie müssen verstehen, dass es sich dabei um Beweise handelt, die wir Ihnen nicht so einfach aushändigen können. Unsere Untersuchungen stehen noch am Beginn. Bitte halten Sie sich für weitere Befragungen bereit und verlassen Sie München derzeit nicht.“
Derartige Szenen kannte Tina nur aus Filmen. Und sie hätte niemals gedacht, dass sie der Hauptdarsteller werden würde. Inspektor Eigner hatte das Büro verlassen. Völlig geschockt gaben unter Tina die Knie nach und sie ließ sich auf einen Sessel sinken.
Ihr Chef nahm hinter dem Schreibtisch Platz. „Frau Schubert, versuchen Sie noch einmal nachzudenken, ob Herr Neumüller Ihnen irgendwelche Informationen über seine illegalen Tätigkeiten gegeben hat.“
Tina schüttelte ruckartig den Kopf.
„Da es derzeit noch ganz viele offene Fragen gibt und ich nicht ganz abschätzen kann, welche Position Sie hier einnehmen, müssen Sie verstehen, dass ich Sie bitten muss, bis auf weiteres nicht mehr ins Büro zu kommen.“
„Sie kündigen mich? Jetzt? Ich habe nichts getan!“
„Kündigen. Das ist ein hartes Wort. Würde ich nicht gerade sagen. Nennen wir es einfach: unbezahlten Urlaub nehmen. Bis auf weiteres.“
„Wie lange?“
„Das lässt sich noch nicht sagen. Unsere Buchhaltung übergeben wir bis auf weiteres nun einem externen Unternehmen. Und in einigen Wochen, Monaten sehen wir weiter.“
„Ich kann doch nicht Monate im Ungewissen bleiben, was mit mir ist?“
„Es steht Ihnen frei, jederzeit zu kündigen. Wir werden Ihnen selbstverständlich ein Zeugnis ausstellen.“
„Sie versuchen also, mich zu einer Kündigung zu drängen?“ Fassungslos betrachtete Tina ihr Gegenüber. „Ich werde es mir überlegen.“
Tina stand auf wackeligen Knien und verließ hoch erhobenen Hauptes das Büro. Sie hoffte zumindest, dass sie diesen Eindruck erweckte. In ihrem Inneren sah es jedoch anders aus. Sie schloss ihre Bürotür und versuchte sich über das Gehörte im Klaren zu werden.
Ihr direkter Vorgesetzter hatte Geld unterschlagen und war verschwunden. Es gab angeblich Beweise, die eine Mittäterschaft ihrerseits nicht ausschloss. Ihr oberster Chef wollte sie loswerden.
Gedankenverloren starrte Christina an die gegenüberliegende Wand. Konnte sie irgendetwas klären oder retten? Sie hatte in den letzten Jahren so hart für die Stellung in der Firma gekämpft. Das Studium mithilfe zweier Nebenjobs bewältigt. Unzählige unbezahlte Überstunden in Kauf genommen. Die schmierigen Annäherungsversuche von Neumüller immer höflich aber bestimmt abgewendet. Und nun wurde sie in die gleiche Schublade wie er geschoben.
„Kathrin!“ Vielleicht konnte ihre Assistentin ihr helfen.
Kathrin öffnete verlegen die Tür.
„Kathrin, kannst du irgendwie ausfindig machen, von welchen Beweisen der Kriminalkommissar gesprochen hat? Vielleicht haben wir noch irgendwo Kopien davon.“
Kathrin schüttelte traurig den Kopf. „Die Polizei hat fast alle Unterlagen aus der Buchhaltung beschlagnahmt und mitgenommen.“
„Vielleicht gibt es im Computer noch irgendwo Hinweise.“
Unsicher blickte Kathrin immer wieder am Gang nach links und rechts. „Tina, ich mag dich wirklich gerne. Aber …“
„Aber?“
„Dr. Hagebauer hat mich heute Morgen jemand anderem als Assistentin zugeteilt und mir ausdrücklich aufgetragen, dass ich dir keine weiteren Firmeninterna weitererzählen darf.“
„Waaas?“ Das ging entschieden zu weit! „Ich habe meine gesamte Freizeit, ach was, mein ganzes Leben dieser Firma geopfert und jetzt werde ich einfach mir nichts dir nichts aufs Abstellgleis geschoben!“ Erbost stand Tina auf und tigerte nun zwischen Fenster und Tür ihres Büros hin und her. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mit diesem Betrug etwas zu tun habe?“
Kathrin schrumpfte merklich unter der Anklage. Ihre Wangen färbten sich verräterisch rot.
„Du bist meine Freundin! Ich habe dich immer gedeckt und deine Arbeiten übernommen, wenn du nach einem durchzechten Wochenende nicht ganz fit warst!“
„Tina, dafür bin ich dir immer dankbar. Aber du musst meine Position verstehen. Ich muss die Miete weiter bezahlen und habe bereits eine Anzahlung auf ein Auto geleistet. Ich darf meine Stelle nicht verlieren.“
Entgeistert nahm Tina auf dem Sofa neben dem Fenster Platz. Keine Arbeit bedeutete auch kein Geld. Mit einem Schlag kam ihr diese Erkenntnis. Kathrin verließ leise das Büro. Was sollte Tina nun tun? Auch sie war auf den monatlichen Gehaltsscheck angewiesen. Das Leben in München war nicht gerade billig. Ihre Wohnung konnte sie sich gerade so leisten. Sie konnte auf keinen Fall mehrere Monate auf ihr Gehalt verzichten. Eine neue Arbeitsstelle war die einzige Lösung.
4
„Guten Morgen. Mein Name ist Christina Schubert und ich würde gerne mit Ihrem Personalchef sprechen.“ Es war ihr gefühltes 246. Telefonat. Die Buschtrommeln in München funktionierten besser als im Urwald. Es hatte meist nur einige Minuten gedauert, bis der Personalchef oder der Chef der Buchhaltung oder einfach nur irgendein Mitarbeiter ihr mitteilte, dass sie leider keinen Bedarf hätten. Und wenn Bedarf wäre, dann nicht sie. Diese Tatsache hatte ihr zwar niemand direkt gesagt, sie hörte es jedoch zwischen den Zeilen deutlich heraus.
Der Fall Neumüller tauchte nach dem Aufdecken noch tagelang in der Presse auf. Jetzt – vier Wochen später – fand man ihn jedoch nur mehr unter dem Kleingedruckten. Das machte auch Tina Mut, dass sie bald eine Stelle finden würde.
Die Polizei hatte sie noch zwei Mal gründlich befragt und ihr Dokumente vorgelegt, an die sie sich nicht erinnern konnte, diese jemals unterschrieben zu haben. Sie ärgerte sich noch immer, dass sie ihrem Chef so blind vertraut, und eigentlich immer alles unterschrieben hatte, wenn er ihr etwas vorlegte. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, dass er Geld bei Seite schaffen würde.
Ihre 64 m² Wohnung lag in der Nähe des Englischen Gartens und sie genoss einen Spaziergang darin, sooft es ihr möglich war. Die letzten Wochen hatten auch ihren körperlichen Tribut gefordert. Ihr war oft schlecht, vor allem morgens übergab sie sich des Öfteren. Das lag wahrscheinlich an ihren unregelmäßigen Essenszeiten und den Sorgen um ihre Zukunft. Noch konnte sie von ihren Reserven leben, aber bald würde sie sehr sparsam sein müssen. Schließlich musste sie die Miete von 850 Euro ohne Betriebskosten irgendwo auftreiben.
In der letzten Woche hatte sie bereits ihrer Putzhilfe gekündigt. Tina hatte ja nun etwas mehr Zeit und wusch und bügelte nun selbst. Erstmals seit ihrem Einzug in München. Als Studentin hatte sie sich selbst geschworen, immer genug Geld zu verdienen, dass sie sich für die grobe Hausarbeit eine Hilfe anstellen konnte.
Sie überlegte, ihre Zeitschriftenabos zu kündigen. Was derzeit jedoch nicht viel Ersparnis einbrachte, da diese ja bereits vorab bezahlt worden waren.
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