Der Flamänder rief gleich seine Frau und erzählte ihr die Sache. »Wo zum Teufel mag der Herr Bürgermeister hinfahren wollen?« Die Frage verursachte ihnen viel Kopfzerbrechen. »Nach Paris«, meinte die Frau. »Das glaube ich nicht«, widersprach ihr Mann, nahm den Zettel mit den Ziffern, den Madeleine auf dem Kaminsims hatte liegen lassen und studirte ihn aufmerksam. »Fünf, sechs, acht ein halb? Damit müssen Entfernungen zwischen Poststationen gemeint sein. – Ich hab's!« rief er dann plötzlich. »Nun?« »Von hier bis Hesdin sind fünf, von Hesdin bis Saint-Pol sechs, von Saint-Pol bis Arras acht und eine halbe Meile.«
Mittlerweile war Madeleine nach Hause zurückgekehrt.
Er hatte einen großen Umweg gemacht, als wenn der Anblick des Pfarrhauses Anlaß zu einer gefährlichen Versuchung hätte geben können. Zu Hause schloß er sich in seinem Zimmer ein, was nichts Auffälliges hatte, denn er begab sich gern frühzeitig zur Ruhe. Indessen beobachtete die Portierfrau der Fabrik, die zugleich auch den Dienst in Madeleine's Haushalt versah, daß sein Licht um halb neun ausgelöscht wurde, und richtete deshalb an den Kassirer, der gerade nach Hause kam, die Frage:
»Sollte der Herr Bürgermeister unpäßlich sein? Er sah heute Abend ganz eigentümlich aus.«
Das Zimmer des Kassirers lag unter den Madeleines. Er beachtete die Worte der Portierfrau nicht weiter, legte sich zu Bett und schlief ein. Gegen Mitternacht aber erwachte er plötzlich in Folge eines Geräusches über seinem Kopfe. Er horchte auf. Es war, als ob Jemand in dem Zimmer über ihm hin und her gehe, und bald erkannte er auch Madeleines Tritt. Das kam ihm sonderbar vor, denn gewöhnlich ließ sich vor der Stunde, wo Madeleine aufzustehen pflegte, kein Geräusch vernehmen. Gleich darauf schien es dem Kassirer, als würde oben ein Schrank auf- und dann wieder zugemacht. Dann wurde ein Möbel von seiner Stelle gerückt, es trat Stille ein, und wiederum wurden Schritte hörbar. Der Kassirer, der jetzt vollständig munter geworden war, richtete sich im Bett auf und sah durch das Fenster an dem gegenüberstehenden Hause das grelle Abbild eines hell erleuchteten Fensters. Nach der Richtung der Lichtstrahlen zu urtheilen konnte es sich nur um das Fenster von Madeleines Zimmer handeln. Der Lichtschein zitterte, als rühre er etwa von einem Kaminfeuer, nicht von einer Lampe, her. Da ferner das Fensterkreuz in dem lichten Abbilde fehlte, so war anzunehmen, daß Madeleines Fenster weit offen stehen mußte. Das war in Anbetracht der Kälte, die in der betreffenden Nacht herrschte, sonderbar genug. Bald aber schlief der Kassirer wieder ein, um zwei oder drei Stunden später wieder zu erwachen. Abermals vernahm er ein Geräusch, wie wenn Jemand auf und abgehe.
Noch immer zeichnete sich das Fenster an dem Hause gegenüber ab, aber matter und ruhiger wie von dem Wiederschein einer Lampe oder einer Kerze. Auch jetzt noch mußte Madeleines Fenster offen stehn.
Folgendes aber ging in dem oberen Zimmer vor.
III. Ein Sturm unter einem Schädel
Der Leser hat gewiß schon errathen, daß Madeleine kein Andrer ist, als Jean Valjean.
Wir hatten schon einmal einen Blick in die Tiefen dieser Menschenseele geworfen; jetzt ist der Augenblick gekommen, daß wir abermals hineinschauen. Wir vermögen es nicht ohne Angst und Grauen. Giebt es doch nichts Furchtbareres, als eine Betrachtung dieser Art! Das Auge des Geistes findet nirgend grelleres Licht und schwärzere Finsterniß, als im Menschen; es kann nichts begegnen, das furchtbarer, verworrener, rätselhafter und unendlicher wäre. Es giebt etwas, das großartiger anzuschauen ist, als das Meer: der Himmel; etwas, das großartiger ist, als der Himmel: des Menschen Geist.
Wer das Innere des Menschenhirns, auch nur eines Menschenhirnes, ja auch nur des unbedeutendsten beschreiben könnte, würde das Höchste und Schwerste damit geleistet haben. Welch ein Chaos von Wahnbildern, Begierden, Bestrebungen, Träumen! Welch ein Schlupfwinkel für Gedanken, die sich ihrer selbst schämen! Welch ein Pandämonium von Sophismen! Welch ein Schlachtfeld der Leidenschaften! Könnte man nur in gewissen Stunden mit den Blicken hineindringen in das Innere eines Menschen, den seine Gedanken peinigen! Man würde dann hinter der äußern Ruhe des fahlen Antlitzes homerische Riesenkämpfe, wilde Schlachten zwischen Drachen und Hydren, wie in Miltons Paradies, sich abspielen, dicht gedrängte Schaaren von Schreckbildern, wie in Dantes göttlicher Komödie, aufsteigen sehen. Wie schauerlich ist jene unendliche Welt von Ideen und Empfindungen, die jeder Mensch in sich trägt, und an der er mit Verzweiflung die Bestrebungen seines Hirns und die Thaten seines Lebens mißt!
Alighieri sah eines eine Thür, vor der er zurückbebte. Auch wir stehen jetzt vor der Schwelle einer solchen Thür. Wagen wir aber dennoch, sie zu öffnen. Wir haben nur noch wenig zu dem hinzuzufügen, was unseren Lesern über Jean Valjean's Schicksale seit seiner Begegnung mit dem kleinen Gervais schon bekannt ist. Wie schon geschildert, war er von Stunde an ein andrer Mensch. Was der Bischof aus ihm machen wollte, das setzte er in Wirklichkeit um. Sein ganzes Wesen läuterte und verklärte sich.
Es gelang ihm zu verschwinden, er verkaufte das Silbergeschirr des Bischofs mit Ausnahme der Leuchter, die er zum Andenken behielt, schlich sich von Stadt zu Stadt durch ganz Frankreich hindurch bis nach Montreuil-sur-Mer, wo er sich eine unangreifbare Stellung schuf. Hier gab er sich dem Glücksgefühl hin, daß seine schreckliche Vergangenheit durch eine friedvolle, sichre Gegenwart ausgelöscht sei, und der Hoffnung, er würde jetzt verborgen bleiben und einen heiligen Lebenswandel führen können, seinen irdischen Verfolgern entfliehen und zu Gott zurückkehren.
Diese beiden Gedanken waren in seinem Geiste so eng mit einander verschlungen, daß sie ein einziges Ganzes bildeten, sie nahmen gebieterisch sein ganzes Sein in Anspruch und bestimmten seine geringfügigsten Handlungen. Meistentheils herrschte Eintracht zwischen diesen zwei Prinzipien; sie bestimmten ihn, sich bescheiden der Welt und ihrem Glanze zu entziehen, machten ihn wohlwollend und schlicht, und flößten ihm beide dieselben Gedanken ein. Bisweilen jedoch kam es vor, daß sie mit einander in Kampf geriethen. Dann trug der Mann, den ganz Montreuil-sur-Mer nebst Umgegend Herrn Madeleine nannte, kein Bedenken, das erste dem zweiten, seine persönliche Sicherheit seiner Tugend, zu opfern. So hatte er, aller Vorsicht und allen Geboten der Klugheit zum Trotze, die Leuchter des Bischofs in seinem Besitz behalten, seinen Wohlthäter betrauert, alle Savoyardenjungen zu sich beschieden und ausgefragt, Erkundigungen über Familien in Faverolles eingezogen, dem alten Fauchelevent trotz Javerts argwöhnischen Bemerkungen das Leben gerettet. Nach dem Vorbilde aller Weisen, Frommen und Gerechten dachte er, daß die Pflichten gegen sich selbst nicht die ersten sind.
Doch war ihm bisher ein so schwieriger Gewissensfall, wie dieser, noch nicht vorgekommen. Noch nie war der Widerstreit zwischen den beiden Grundsätzen, die den Unglücklichen lenkten, ein so heftiger und gefährlicher gewesen. Dies begriff er zwar unklar, aber nachhaltig, bei den ersten Worten Javerts. Als der Name, den er so tief vergraben hatte, unter so sonderbaren Umständen vor ihm ausgesprochen wurde, erfaßte ihn starres Entsetzen, war er wie betäubt, erbebte er wie die Eiche, wenn ein Gewitter naht, wie ein Soldat vor der Schlacht. Er sah in seinem Geiste düstre Wolken über sich, aus denen bald Blitz und Donner hervorbrechen würden. Während er Javerts Worten lauschte, wandelte ihn der Gedanke an, er müsse hineilen, sich angeben, Champmathieu aus dem Gefängniß befreien und seine Stelle einnehmen. Es war schmerzhaft und peinvoll, wie ein Schnitt in sein eigen Fleisch, aber es ging vorüber, und er dachte: Aber – aber! Er unterdrückte also diese erste edle Regung und schrak zurück vor dem heldenmüthigen Opfer.
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