So sprach er in seinem innersten Herzen, stand dann auf und ging in seinem Zimmer auf und nieder.
»Also,« begann er wieder, »daß hab' ich hinter mir. Der Entschluß ist gefaßt.«
Aber er empfand leine Freude.
Im Gegentheil.
Man kann seinen Gedanken ebenso wenig verwehren zu demselben Gegenstande zurückzukehren, wie dem Meer verbieten, daß es gegen seine Ufer brandet. Was für den Seemann sie Fluth ist, das sind für den Schuldbewußten die Gewissensbisse. Gott wühlt, wie den Ocean, so auch die Seele auf.
Nach Ablauf weniger Sekunden verfiel er wieder in das Gespräch, indem er zugleich redete und zuhörte, was er gern verschwiegen hätte, aussprach. Trieb ihn doch unwiderstehlich jene geheimnißvolle Macht, die ihm gebot zu denken, wie sie einst einem anderen Verdammten befohlen hatte, fortan ruhelos zu wandern.
Bevor wir weiter gehen und um besser verstanden zu werden, müssen wir eine nothwendige Bemerkung machen.
Es ist gewiß, daß man mit sich selber spricht. Es giebt kein denkendes Wesen, daß dieses Gefühl nicht gehabt hätte. Man sagt etwas zu sich, man spricht mit sich selber, ohne daß darum das Stillschweigen nach außen hin gebrochen würde. Bei dem heftigsten innerlichen Tumult spricht Alles in uns, nur der Mund nicht. Denn mögen die Thatsachen des Innern auch nicht sichtbar oder greifbar sein, Thatsachen sind sie darum doch.
Er stellte sich also jetzt die Frage, welche Bedeutung der »gefaßte« Entschluß habe. Er bekannte sich selber, daß, was er sich so eben in seinem Geist zurecht gelegt habe, eine Ruchlosigkeit sei, daß die »Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen, dem lieben Gott nicht entgegen zu treten« einfach eine abscheuliche Verirrung wäre. Diesen Irrthum des Geschicks und der Menschen sich vollziehen lassen, ihn durch sein Stillschweigen nähren, kurz nichts thun hieß Alles thun! Das war der höchste Grad der Heuchelei und Nichtswürdigkeit! Das war ein gemeines, feiges, heimtückisches, erbärmliches, grauenvolles Verbrechen!
Zum ersten Mal seit acht Jahren verspürte jetzt der Unglückliche den bittern Geschmack eines bösen Gedankens, einer schlechten Handlung.
Er wies ihn mit Widerwillen von sich, und befragte sich weiter: »Was hatte er gemeint mit den Worten: Mein Zweck ist erreicht!« Er erklärte, sein Leben habe in der That einen Zweck. Aber welchen? Seinen Namen zu verhehlen, die Polizei hinters Licht zu führen? Weiter hatte er nichts gewollt? Bezweckte er nicht etwas Höheres, Edleres? Schwebte ihm nicht ein schöneres Ziel vor das einzig wahre? Nicht seinen Leib, sondern seine Seele retten, rechtschaffen und gut werden, ein gerechter sein, das hatte er doch immer gewollt, einzig und allein gewollt, das hatte ihm der Bischof befohlen. Die Thür seiner Vergangenheit zuschließen? Herr, erbarme dich – er schloß sie eben nicht, er that sie wieder auf, wenn er eine schändliche Handlung beging; er wurde wieder ein Dieb, der hassenswerteste aller Diebe; er stahl einem Andern sein Dasein, sein Leben, seinen Frieden, seinen Antheil am Sonnenlicht! Er wurde ein Mörder, denn er tötete moralisch einen Unglücklichen, er fügte ihm einen lebendigen Tod zu, den gratlosen Tod, den man die Zuchthaushaft nennt! Im Gegentheil. Sich dem Arm der Gerechtigkeit überliefern, das Opfer des gräßlichen Irrthums retten, seinen wahren Namen wieder annehmen, aus Pflichtgefühl wieder Jean Valjean werden, das hieß vollends auferstehen und die Hölle, der er entronnen war, zudecken. Was dem Anschein nach sein Verderben war, bedeutete in Wirklichkeit seine Rettung. So mußte er handeln! That er das nicht, so hatte er gar nichts gethan. Dann war sein ganzes Leben unnütz, seine Reue verloren, und er konnte dann nur noch sagen: Wozu alles höhere Streben? Er fühlte, daß der Geist des Bischofs auf ihn niederblicke, daß fortan der Bürgermeister Madelaine mit allen seinen Tugenden ihm ein Greuel, und der Zuchthäusler Jean Valjean dagegen achtungswürdig und rein sein würde, daß die Menschen seine Maske sähen, der Bischof sein wahres Gesicht; daß die Menschen auf sein Leben, der Bischof in sein Inneres schaue. Es galt also nach Arras zu gehen, den falschen Jean Valjean zu befreien, den Wahren anzuzeigen. Ach! es war das schwerste Opfer, der schmerzlichste Sieg, der letzte Schritt, der zu thun war, aber es maßte sein. Welch ein trauriges Geschick war das seine! Er konnte von Gott nicht erhöht werden, wenn er nicht von Seiten der Menschen die tiefste Erniedrigung erfuhr!
»Gut sagte er, es sei beschlossen! Ich will meine Schuldigkeit thun, ich will ihn retten!«
Diese letzten Worte sprach er ganz laut, ohne es zu bemerken.
Er nahm seine Rechnungsbücher vor, sah sie durch und brachte sie in Ordnung. Dann warf er eine Menge Schuldscheine, die seine Forderungen an kleine Handelsleute belegten, ins Feuer. Hierauf setzte er einen Brief auf, versiegelte ihn und schrieb auf den Umschlag die Adresse: An den Herrn Bankier Laffitte, Rue d'Artois. Paris.
Endlich entnahm er einem Schreibpult ein Portefeuille mit Kassenscheinen und den Paß, den er in demselben Jahr gebraucht hatte, um zur Wahl zu gehen.
Wer ihn hierbei beobachtet, wer seine tiefernste Miene gesehen hätte, würde nicht geahnt haben, was in seiner Seele vorging. Nur von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Lippen; dann hob er wieder das Haupt empor und richtete seinen Blick auf irgend eine Stelle der Wand, als sei dort etwas, das er ergründen oder befragen wollte.
Nachdem er den Brief an Laffitte fertig gemacht, steckte er ihn, wie auch das Portefeuille in die Tasche und fing wieder an auf und abzugehen.
Seine Gedanken hatten keine andre Richtung angenommen. Noch immer stand vor den Augen seines Geistes in lichtvollen Schriftzeichen das Gebot geschrieben: »Geh! Nenne, denunzire dich!«
Desgleichen erkannte er so deutlich, als hätte sie eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt angenommen, ihrem Wesen nach, die beiden Grundsätze, die bisher die Richtschnur seines Lebens gewesen waren: Die Verheimlichung seines Namens und die Heiligung seiner Seele. Zum ersten Mal sah er ein, daß sie durchaus verschieden waren. Er begriff, daß eins dieser Prinzipien ein nothwendig gutes sei, während das andre zum Bösen führen konnte, daß das eine soviel wie Selbstaufopferung, das andre Selbstsucht bedeute; daß das eine dem Licht, das andre der Finsterniß entstammen.
Sie bekämpften sich und er sah diesen Kampf. In dem Maße, wie er über sie nachdachte, waren sie in den Augen seines Geistes größer geworden, zu Kolossen angewachsen, von denen der eine ihm als ein Gott, der andre als ein Titan erschien.
Er war entsetzt, aber es dünkte ihn, daß der edle Grundsatz den Sieg davontrage.
Er fühlte, daß er an dem zweiten Wendepunkt seines innern Lebens und seines äußern Schicksals angelangt sei. Hatte die Begegnung mit dem Bischof den ersten Abschnitt seines neuen Lebens bestimmt, so sollte jetzt die Befreiung Champmathieus' den Anfang der zweiten Periode kennzeichnen. Nach der großen Krisis die große Prüfung.
Indessen trat das Fieber, das einen Augenblick nachgelassen hatte, wieder auf. Tausend Gedanken durchkreuzten sein Hirn, bestärkten ihn aber nur in seinem Entschlusse.
Eine Zeit lang hatte er den Einwand erhoben, er nahm es vielleicht zu genau, vielleicht verdiene Champmathieu keine Theilnahme, der Mensch sei ja doch nur ein Spitzbube.
Diesen Einwurf widerlegte er sich aber: – Hatte der Mann wirklich ein paar Aepfel gestohlen, so gehörte ihm ein Monat Gefängnis, was sehr verschieden ist von lebenslänglicher Zuchthausstrafe. Und hat er denn überhaupt gestohlen? Liegen Beweise vor? Der Name Jean Valjean klagt ihn an und erläßt alle Beweise. Verfahren die Staatsanwälte nicht immer so? Sie halten Einen für einen Dieb, weil er Zuchthaussträfling gewesen ist.
Einmal ließ er sich den Gedanken beikommen, wenn er sich den Gerichten stelle, würde man ihm vielleicht die heldenmüthige Selbstüberwindung, und seinen rechtschaffenen Lebenswandel während der letzten sieben Jahre, seine Verdienste um die Stadt anrechnen und Gnade für Recht ergehen lassen.
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