Plauderte er mit jener ihm so wohl anstehenden kindlichen Fröhlichkeit, die wir schon an ihm gerühmt haben, so schien sein ganzes Wesen Freude auszustrahlen. Mit seiner gesunden frischen Gesichtsfarbe, seinen hübschen, noch gut erhaltenen Zähnen, sah er dann recht treuherzig, bieder, gemüthlich aus, so daß Jeder, der ihn zuerst sah, einfach sagte: »Das muß ein guter Kerl, eine gute alte Seele sein.« Auch Napoleon hatte ihn ja »einen guten Mann« genannt. Verweilte man aber mehrere Stunden in seiner Nähe und war man dabei, wenn er nachdenklich wurde, so ging mit dem »guten Mann« eine Umwandlung vor; seine äußere Erscheinung wurde ehrfurchtgebietend und majestätisch, ohne daß der Ausdruck der Güte von ihm gewichen wäre: man hatte dann die Empfindung, als sehe man einen lächelnden Engel seine Flügel ausbreiten. Ein unbeschreibliches Gefühl der Hochachtung erfüllte dann allmählich das Herz des Beobachters. Man wurde dann inne, daß man einem Manne von gewaltigem Verstande gegenüber stand, einem Manne, der die höchsten Stufen der Erkenntnis erklommen hat, einem Manne, der da weiß, daß die Wahrheit nur der Liebe und Nachsicht zugänglich ist.
Wie man gesehen hat, füllten Gebet, seine Amtspflichten, Almosengeben, die Tröstung der Leidbedrückten, die Gärtnerei, Liebeswerke, Frugalität, Gastfreundschaft, Entsagung, Studium, Arbeit jeden seiner Tage aus. Füllten aus, sagten wir, denn übervoll war solch ein Tag an guten Gedanken, Worten und Werken. Indessen galt er ihm noch nicht für vollständig ausgenutzt, wenn ihn des Abends, nachdem die beiden Frauen sich zur Ruhe begeben hatten, feuchte oder kalte Witterung hinderte, noch eine oder zwei Stunden in seinem Garten zuzubringen. Es war ihm ein Bedürfniß sich Angesichts des Sternenhimmels der Betrachtung hinzugeben, um sich zum Schlaf vorzubereiten. Bisweilen hörten die beiden Frauen, wenn sie wach geblieben waren, noch spät in der Nacht seinen Schritt in den Alleen des Gartens. Allein mit seinen Gedanken, andächtig, friedevoll empfand er da in der Dunkelheit die sichtbare Herrlichkeit der Gestirne und die unsichtbaren Herrlichkeiten Gottes und ließ die Gedanken, die dem Unbekannten entströmen, in seine Seele ein. In solchen Augenblicken, wo die Nachtblumen ihren Kelch aufthun, ihren Duft auszuhauchen, bot auch er sein Herz dar, wie eine Lampe inmitten der Sternennacht und ergab sich der Begeisterung. Er hätte dann selbst nicht sagen können, was in seinem Geiste vorging, er fühlte blos, daß etwas von ihm ausging, und daß etwas in ihn herniederstieg. O des geheimnißreichen Verkehrs zwischen den Tiefen der Seele und des Weltalls! Sein Geist beschäftigte sich mit Gottes Größe und Gegenwart, mit dem wunderbaren Geheimniß der zukünftigen Ewigkeit und dem noch wunderbarern der Vergangenheit; mit all den Unendlichkeiten, die sich nach allen Richtungen seinen Augen darboten, und schaute, ohne das Unbegreifliche begreifen zu wollen. Er suchte nicht das Wesen Gottes mit dem Verstande zu erfassen, er versenkte sich in Entzückung um seiner theilhaftig zu werden. Er erwog die Zusammenstöße der Atome, die dem Stoff die Form verleihen, Kräfte offenbaren, Individuen in der Einheit, Proportionen im Raum, das Unzählbare im Unendlichen schaffen und mittelst des Lichtes die Schönheit hervorbringen. Diese Vereinigungen finden ohne Unterlaß statt und lösen sich wieder auf; daher der Ursprung des Lebens und des Todes.
Er setzte sich auf eine Holzbank, deren Lehne ein altersschwaches Gitter berührte und betrachtete die Gestirne durch die Laubkronen seiner armseligen Obstbäumchen. Dieses so dürftig bepflanzte, durch unschöne Gebäude und Schuppen eingeengte Stückchen Erde war ihm theuer und genügte ihm.
Was bedurfte dieser Greis auch mehr? War dieser enge Raum, den oben der Himmel überwölbte, nicht groß genug um Gott in seinen erhabensten Werken anbeten zu können? Ist dies nicht das Wichtigste, und wozu noch mehr begehren? Ein Gärtchen zum Spazierengehn und die Unendlichkeit als Spielraum für seine Gedanken! Vor den Füßen etwas zu pflegen und zu pflücken, über dem Haupte Stoff zu Studien und Betrachtungen; auf der Erde einige Blumen und am Himmel alle Sterne!
Noch ein Wort.
Vielleicht verleiten einige der von uns angeführten Einzelheiten Manchen zu dem Schlusse, der Bischof von Digne sei ein Pantheist gewesen und habe sich, wie viele andre unsrer Zeitgenossen, eine Privatphilosophie für seinen eignen Gebrauch zurecht gemacht, die bei ihm die Stelle der Religion vertreten hätte. Solchen Vermuthungen gegenüber betonen wir, daß Niemand, der Herrn Bienvenu gekannt hat, eine solche Annahme für gerechtfertigt gehalten hätte. Dieser Mann regelte sein Denken nur nach den Eingebungen seines Herzens.
Kein System, nur Werke. Dem menschlichen Verstand, der sich mit tiefsinnigen Spekulationen über die Natur der Dinge befaßt, schwindelt leicht, und nichts deutet darauf hin, daß unser Bischof sich gern in apokalyptischen Räthseln ergangen habe. Ein Apostel darf kühn sein, einem Bischof geziemt Zurückhaltung. Er hätte wahrscheinlich Bedenken getragen, die, so zu sagen nur den übermenschlich veranlagten Geistern vorbehaltne Lösung gewisser Aufgaben zu unternehmen. Wohl stehen die Thore offen, aber den gewöhnlichen Wanderer durchschauert bei ihrem Anblick ein Schrecken, der ihn zurücktreibt. Wehe dem, der sich hineinwagt! Nur das Genie erhebt sich mittels der Abstraktion und des reinen Denkens über die Höhen des Dogmas und fragt Gott mit dem Gebet. Dies ist unvermittelte Religion; wer ihre steilen Höhen zu erklimmen wagt, der übernimmt schwere Verantwortlichkeit und qualvolle Sorgen.
Die innere Betrachtung achtet keiner Schranken. Sie unterfängt sich in ihre eignen Tiefen zu dringen und sendet das Licht, das sie dort findet, in die Natur hinauf. Die geheimnisvolle Welt, die uns umgiebt, erstattet, was sie empfangen, zurück. Es ist wahrscheinlich, daß die Betrachter betrachtet werden. Wie dem auch sei, es giebt auf der Erde Menschen, – wenn wir sie noch so nennen können, – die fern am Horizont des Ideals die Höhen des Absoluten schauen. Unser Bischof gehörte nicht zu diesen Menschen, er war kein Genie. Er wäre vor jenen Höhen zurückgeschreckt, von denen Einige, darunter recht große Geister, wie Swedenborg und Pascal, in die Tiefen des Wahnsinns hinabstürzten. Allerdings haben dergleichen großartige Träumereien ihren moralischen Nutzen und auf diesen steilen Pfaden steigt man zur idealen Vollkommenheit empor. Aber der Bischof schlug einen kürzern Weg ein, denjenigen, den das Evangelium zeigt.
Er hüllte sich nicht in den Mantel des Elias, beleuchtete nicht die Ereignisse der dunkeln Zukunft und war weder Prophet noch Magier. Er liebte, und dies genügte seinem bescheidenen Sinne.
Daß er das Gebet über das allgemein menschliche Maß ausdehnte, ist wahrscheinlich; aber man kann eben so wenig zu viel beten, als zu viel lieben, und wenn es eine Ketzerei wäre, anders zu beten, als die Bücher es vorschreiben, so müßte man die heilige Theresa und den heiligen Hieronymus Ketzer nennen.
Er ließ sich mitleidig herab zu Denen, die da seufzen zu Denen, die da büßen. Das Weltall erschien ihm wie ein großer Körper, der voller Krankheit ist. Ueberall Fieber, überall Schmerzen! Aber er versuchte nicht das Wesen der Krankheit zu ergründen, er bemühte sich nur, sie zu heilen. Das furchtbare Schauspiel der erschaffenen Dinge stärkte in ihm den Trieb des Mitleids. Er sann nun auf Mittel, wie er Unglückliche am trostreichsten beklagen, wie er ihr Leid am wirksamsten lindern, und wie er auch Andere diese Weisheit lehren könne. Alles, was da ist, war für diesen guten und seltenen Priester ein Gegenstand der Trauer, die nach Trost verlangt.
Es giebt Menschen, die sich mit der Gewinnung des Goldes aus den Tiefen der Erde beschäftigten. Er beschäftigte sich mit der Gewinnung des Mitleids aus den Tiefen des menschlichen Herzens. Das allgemeine Elend war der Schacht, in dem er arbeitete. Angesichts des großen Jammers, der überall herrscht, verwies er nur auf den Spruch: »Kindlein, liebet Euch unter einander.« In diesem Spruch war für ihn alle Weisheit enthalten. Eines Tages sagte der schon erwähnte Senator, der sich für einen »Philosophen« hielt: Aber so sehen Sie Sich doch das Schauspiel an, das die Welt bietet: Ueberall Krieg Aller gegen Alle; der Stärkste ist auch der Klügste. Ihr Wahlspruch: »Liebet Euch unter einander« ist eine Dummheit. »Sehr wohl« erwiderte der Bischof, ohne sich auf eine Widerlegung einzulassen: »Wenn das eine Dummheit ist, so soll sich die Seele darin einschließen, wie die Perle in die Auster.«
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