Verwundert hob Geertje die Schultern und ging ihr voraus, in Richtung Schlafzimmer. „Wenn du meinst...“
Julie war froh, als sie die Untersuchung hinter sich gebracht hatte und der jungen Norwegerin mitteilen konnte, dass es dem Kind gut ging, soweit sie feststellen konnte.
„Du musst dich trotzdem schonen“, ermahnte sie streng und sagte sich, es höre sich wie Hardy an. „Sei bitte vorsichtig“, fügte sie sanfter hinzu. Sie lächelte. Sie und Geertje mochten sich und wenn sie davon sprechen konnte eine Freundin zu besitzen, dann war Geertje auf jeden Fall eine von ihnen.
Ein lautes Rufen ließ die beiden jungen Frauen herumfahren. Torbjörn stieß die Türe auf. „Runter! In Deckung! Indianer!“
Geertje wurde blass und stieß einen kurzen Schrei aus. Julie besaß mehr Kaltblütigkeit und packte die junge Frau kurzerhand an den Schultern, um sie auf den Fußboden neben dem Bett zu drücken.
„Bleib hier!“, befahl sie. „Du rührst dich nicht von der Stelle!“
Sie selbst huschte in gebückter Haltung hinüber in den Wohnraum, zu Torbjörn, der in der offenen Tür stand. Seine Winchester krachte und ein Schrei erklang von draußen. Ein weiterer Schuss und es war still, verdächtig still. Vorsichtig wagte Julie es, hinter ihn zu treten. Sie blinzelte und schaute hinaus. Zwei kleine, gescheckte Pferde ohne Sattel standen im Hof. Ihre beiden Reiter lagen ein Stück daneben, regungslos. Julie überlegte einen langen Moment. Es war ihre Pflicht, Menschenleben zu retten, ganz gleich welcher Rasse, Herkunft oder Geschlechts. Das hatte Hardy ihr immer und immer wieder eingebläut, doch das da draußen waren zwei Indianer, die vielleicht nur vorgaben, verwundet zu sein. Vielleicht wollten sie sie auch nur herauslocken, um sie dann umzubringen. Galt für sie nun dasselbe? War es diese Pflicht wert, dass sie sich selbst in Gefahr brachte? Julie schwirrte der Kopf.
„Ich kann keine anderen sehen“, raunte Torbjörn jetzt und schob sich behutsam einen Schritt nach draußen. „Seltsam.“
„Vielleicht dachten sie, mehr brauchen sie für euch beide nicht!“
Julie wagte sich neben ihm ins Freie, ihre Umgebung genau unter die Lupe nehmend, um jede Bewegung sofort wahrzunehmen. Sie konnte niemanden entdecken, kein Geräusch, nichts verriet, ob sich noch mehr Indianer in der Nähe aufhielten. Langsam, jeden Schritt genau bedenkend, ging Julie vorwärts. Nichts geschah. Kein Schuss fiel, kein Pfeil traf sie und auch die beiden Indianer rührten sich nicht. Zuerst trat Julie zu dem einen, der auf dem Bauch lag. Sie scheute sich davor, ihn zu berühren. Er trug Lederkleidung und sein Haar war lang und pechschwarz. Eine Feder war hinein geknotet und er roch seltsam scharf nach Leder, Fell und als habe er neben einem Feuer gestanden, rauchig und schwer.
Sie gab sich einen Ruck und beugte sich über ihn. Es kostete sie einige Kraftanstrengung, ihn auf den Rücken zu drehen. Zwei große, schwarze Augen starrten sie an, ein Rinnsal von Blut lief aus einem Loch in seiner Stirn. Entsetzt fuhr Julie hoch. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie einen toten, erschossenen Menschen. Sie atmete stoßweise. Er war jung, kaum älter als sie selbst. Vergessen war die Möglichkeit, weswegen die beiden gekommen waren, jetzt siegte ihr Mitgefühl.
Hastig wandte Julie sich ab. Vielleicht lebte zumindest der andere noch. Er lag einige Schritte entfernt, zusammengekauert auf der Seite. Sein glattes, schwarzes Haar hing ihm in langen Strähnen ins Gesicht. Mit einem Blick erfasste Julie den Steckschuss an seinem Bein. Blut floss in Strömen heraus, tropfte auf die feuchte Erde und bildete dort einen dunklen Fleck. Sie kniete sich neben ihn. Behutsam strichen ihre klammen, zitternden Finger die Haare beiseite. Das junge, auf eigene Weise sehr hübsche Gesicht war auf jeder Wange mit zwei weißen Streifen bemalt. Zwei schwarze Augen schauten sie an, doch es waren keine toten Augen, sie waren ausgesprochen lebendig und feindselig. Erschrocken sprang Julie auf, einen leisen Schrei ausstoßend.
Torbjörn hatte mittlerweile die Gebäude umrundet und verkündete, dass er keine weiteren Spuren gefunden habe. Sofort kam er nun zu ihr geeilt, das Gewehr im Anschlag.
„Lebt er etwa noch, dieser rote Teufel?“
„Nicht!“ Fassungslos packte Julie die Waffe. „Du kannst ihn doch nicht einfach erschießen!“
„Warum nicht?“, brüllte Torbjörn. „Glaubst du, er hätte sich um uns geschert?“
„Das darfst du nicht!“, rief Julie und versetzte ihm einen energischen Stoß gegen die Brust. „Das wäre Mord!“
Ungläubig starrte der junge Mann sie an. „Willst...willst du etwa behaupten, du möchtest ihn laufen lassen?“
„Zuerst muss ich die Kugel herausholen und sein Bein verbinden!“
„Ihn auch noch verarzten?“, brüllte Torbjörn. Er schlug mit dem Lauf seiner Winchester nach ihr. „Nicht hier, nicht auf meinem Grund und Boden!“
„Wo denn sonst?“ Ärgerlich schüttelte Julie den Kopf. „Mit in die Stadt nehmen kann ich ihn schlecht. Ich glaube kaum, dass ich ihn dorthin bekomme.“
„Sie hat recht!“ Unbemerkt war Geerjte herausgekommen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Keiner von beiden hatte sie kommen bemerkt. „Du kannst diesen jungen Kerl nicht einfach erschießen!“ Ihre blauen Augen ruhten vorwurfsvoll auf ihrem Ehemann. „Das wärst nicht du! Das wäre nicht mehr der Torbjörn, den ich liebe und den ich geheiratet habe!“
Er schluckte. Sein Stolz verbot es ihm, Nachsicht walten zu lassen und sein Zorn war noch immer ungebrochen. Mit einer schnellen, fahrigen Bewegung strich er durch das hellblonde Haar.
„Sie werden zurückkommen!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und dann...“
„Wenn du ihn erschießt, werden sie das ganz bestimmt“, erwiderte Geertje mit einer Schärfe, die ihr kaum zuzutrauen war. „Aber wenn du ihm hilfst, wird er es vielleicht weitererzählen und sie werden uns verschonen!“
Es kostete Torbjörn einige Überwindung, doch die Worte seiner Frau schmerzten ihn. Er erkannte sich ja selbst kaum wieder! Endlich nickte er. „Also gut. Bringen wir ihn ins Haus.“
Zufrieden nahm Geertje ihm das Gewehr ab, damit er Julie helfen konnte, den jungen Indianer hineinzutragen. Kaum jedoch, dass Torbjörn ihn fassen wollte, versuchte dieser aufzuspringen. Hasserfüllt starrten seine dunklen Augen sie an. Sein verwundetes Bein konnte kein Gewicht tragen, es gab unter ihm nach und er sackte zusammen, doch irgendwie gelang es ihm, sich noch zu fangen und er landete nur auf den Knien.
„Wir...wir wollen dir helfen“, sagte Julie. Die großen Augen starrten sie misstrauisch an. Er verstand ganz offensichtlich nichts von dem, was sie sagte. „Helfen!“, sagte sie erneut und deutete auf seine Wunde. Als er nicht reagierte, beugte sie sich hinab und berührte sacht die Stelle, wo die Patrone in das Fleisch gedrungen war. Er zuckte vor Schmerz zurück und Julie wunderte sich über ihren eigenen Mut. Seine unergründlichen Augen fixierten sie noch immer, doch sie glaubte, ein Verstehen darin zu erkennen.
„Komm“, sagte sie und gab Torbjörn einen auffordernden Wink. „Geertje, bitte, bring das Gewehr irgendwohin, wo er es nicht sehen kann!“
Diesmal erlaubte der junge Indianer ihnen, ihn zu stützen und ihn zum Haus zu schleifen. Julie legte ihren Arm um seine kräftigen Schultern und wunderte sich, dass er es mit solch stoischer Ruhe geschehen ließ. Wie eigenartig und fremd musste das alles für ihn wirken, erst recht, nachdem er nichts von ihrem Gespräch zu verstehen schien. Sie hatten ihm noch nicht einmal das Messer weggenommen und halfen ihm stattdessen ins Haus! War es schiere Leichtfertigkeit oder waren sie einfach nur vollkommen dumm und naiv? Julie beobachtete ihn genau. Schweiftropfen bildeten sich auf seiner Stirn und sie fragte sich, ob sie von den Schmerzen verursacht wurden oder ob ihm ebenfalls so ungeheuerlich zumute war wie ihnen.
Читать дальше