Friedrich entwarf eine Skizze für seine Kirche, während einige der jungen, enthusiastischen Leute aufbrachen, um sich weiter außerhalb ihre Farmen zu errichten. Die einen entschieden sich, Geschäfte zu eröffnen, während andere wiederum anfingen, einen Stadtrat zusammenzustellen und einen Sheriff zu ernennen. Schon Ende September bestand die Siedlung aus Wohnhäusern, einem General Store, einer Bäckerei, einem Schmied, einem Mietstall und einer kleinen Kirche ohne Glocke. Auch eine Bank war im Gespräch, jedoch war der betreffende Angestellte noch nicht eingetroffen, der die Filiale leiten sollte. Eine Bankgesellschaft aus Kansas hatte sogleich die Chance gesehen, eine weitere Außenstelle in ihrem kleinen Ort zu eröffnen, der stetig wuchs.
„Sie muss jeden Tag mit der Bahn ankommen“, versicherte Friedrich nach dem sonntäglichen Gottesdienst, als er die Gemeinde in einen freien Tag entließ, der vielleicht die letzten Sonnenstrahlen vor dem Kälteeinbruch brachte. „Der Captain hat mir versprochen, sie sofort vorbeibringen zu lassen, wenn sie da ist!“
„Es wird wirklich Zeit, dass wir eine eigene Glocke bekommen“, lachte Miklós und reichte dem Pfarrer die Hand. „Damit ich nicht jeden Sonntag zur Kirche rennen muss, weil ich verschlafen habe!“
Miklós betrieb den Mietstall und hatte gleich einen Teil der Pferde von den Siedlern abgekauft, die sie nicht mehr brauchten. So besaß er nun eine beachtliche Anzahl von Tieren. Trotz des Siedlungsverbotes und der Tatsache, dass dieses Gebiet noch immer den Indianern gehörte, stießen ununterbrochen neue Trecks aus dem Osten zu ihnen und ließen sich in der Stadt nieder, die sie „Gibson Town“ getauft hatten. Einige wollten auch weiter, Richtung Westen und sich dort ein Stück Land suchen, aber viele blieben. Denn unter vorgehaltener Hand sprach es sich längst herum, dass es hier, im Süden, viel einfacher war, an Land zu kommen als weiter westwärts. Manchmal kamen nur Familien an, anderes Mal bunt gemischte Trecks mit jungen Männern und unverheirateten Frauen.
Es ließ sich auch nicht vermeiden, dass keine zwei Monate später der erste Saloon mit Tanzmädchen eröffnet und auch erfolgreich betrieben wurde. Von den anfangs etwas sechzig Personen war die Stadt innerhalb von nur wenigen Wochen um fast das fünffache angewachsen.
Auch an diesem Sonntag hatte ein Siedlertreck unweit vor der Stadt die Nacht verbracht, um von dort aus weiterzuziehen. Es waren nur um die zwanzig junge Männer aus aller Welt und sie wollten bei der Eisenbahn anheuern.
„Das ist alles vollkommen verrückt!“, meinte Hardy Retzner und verzog das Gesicht. „Zuerst warnt uns dieser Captain und dann finden wir heraus, dass es längst eine Bahnstation für die Eisenbahn gibt, nicht weit entfernt und das schon seit Jahren! Ich begreife das nicht und ich habe das Gefühl, dass es mehr als nur ein paar kleine Probleme mit den Indianern gibt. Ich bezweifle, dass sie auch nur einen Cent dafür bekommen, dass ihre Walnussbäume von diesen Kerlen auf die Wagen verladen werden!“
„Ach, sehen Sie doch nicht immer so schwarz!“, bat Julie, während sie langsam neben ihm die breite, kurze Straße hinabschlenderte, an deren beiden Seiten die Häuser ihres Ortes aus dem Boden gestampft worden waren. Alles einfache, in Holzblockweise errichtete Gebäude, alle braun und nichts Besonderes, doch in jedem steckte stundenlange Arbeit, Schweiß und der Stolz, es geschafft zu haben.
Doktor Retzner hatte sich ein winziges, ebenerdiges Häuschen gebaut, wo er im hinteren Teil lebte und im vorderen eine kleine Arztpraxis eröffnet hatte. Es lag fast genau in der Mitte der Stadt, die an ihrer Größe und Einwohnerzahl gemessen eigentlich noch gar keine war.
„Ich sehe schwarz?“, erwiderte er jetzt, als sie vor seiner Haustür stehenblieben. Er schüttelte den Kopf. „Ich sehe alles völlig klar, das ist ein Unterschied! Bisher haben die Indianer uns größtenteils in Ruhe gelassen, abgesehen von diesem einen Brand, den sie im Haus der Gyllenhales veranstaltet haben. Ich fürchte allerdings, das war nur ein Anfang, denn ihnen wird kaum entgehen, wieviele neue Siedler jede Woche hier einfallen, um sich über ihrem Land zu verteilen und es für sich zu beanspruchen! Und das, obwohl sie alle kein Recht dazu haben! Ich kann es nur immer wieder betonen.“
„Sie machen mir Angst!“, rief Julie vorwurfsvoll. „Ich will nicht, dass Sie solche Dinge sagen!“
„Sie werden Ihnen ins Auge sehen müssen“, erwiderte Hardy sehr ernst. „Sie gehören zu unserem neuen Leben genauso dazu, wie die Tatsache, dass bisweilen Wirbelstürme über diese Gegend hinwegfegen.“ Er fasste sie kurz am Kinn und lächelte aufmunternd. „Das habe ich in einer Zeitung gelesen, aber vielleicht stimmt es ja nicht. Wir haben wenigstens den Vorteil, eine große Truppe zu sein! Die Farmer draußen, in der Prärie, haben es da wesentlich schwerer.“
„Ach ja“, fiel Julie bei dem Stichwort ein. „Soll ich später noch zu Geertje hinausreiten und nach ihr sehen?“
„Oh ja, das wäre schön! Ich hätte nie gedacht, dass sie gleich wieder guter Hoffnung sein würde, kaum, dass sie und Torbjörn sich eine Parzelle gesucht haben!“ Er lachte.
„Ich mache mich gleich nach dem Mittagessen auf den Weg“, versprach Julie eifrig. Sie freute sich darauf, die junge Norwegerin endlich wiederzusehen. Es lag schon beinahe sechs Wochen zurück, seit sie das letzte Mal hinausgeritten war.
„Seien Sie bitte vorsichtig!“, bat Doktor Retzner und runzelte die Stirn. „Captain Harbach meinte, dass sich die Creek und die Cherokees wieder in die Haare bekommen hätten und sie lassen das wohl nicht nur an sich gegenseitig aus!“
„Keine Sorge, ich passe schon auf!“, versicherte Julie und wandte sich zum Gehen. „Ich muss nach Hause! Auf Wiedersehen!“
Er lächelte. „Auf Wiedersehen, Julie-Mädchen!“
Großen Schrittes marschierte sie die Straße hinab. Sie wusste, dass es unschicklich aussah und dass Luise sie schelten würde, doch Julie war viel zu aufgeregt, um sich darüber groß Gedanken zu machen. Sie freute sich, wieder einmal reiten zu können und vor allem, einen Nachmittag mit den Stromsons zu verbringen. Es war immer nett bei ihnen und Geertje konnte aus einfachsten Bestandteilen herrlichstes Gebäck zaubern. Sie musste es nur noch ihren Eltern schonend beibringen, denn der Sonntag war heilig und unantastbar in den Augen ihres Vaters. Ein Tag, an dem niemand arbeitete oder etwas tat, was ihn entheiligen könnte. Julie seufzte. Manchmal hasste sie es, die Tochter eines Pastors zu sein.
Ihr Haus lag einige Meter hinter der Hauptstraße zurückversetzt. So hatte Friedrich es sich gewünscht, denn dort wuchsen hohe, alte Bäume und unter denen wollte er zukünftig im Sommer sitzen und die Sonnenuntergänge beobachten. Es war ein einfacher Bau, nur aus dem Erdgeschoß bestehend. Ein Obergeschoß sollte erst später hinzukommen, jedenfalls sah das Friedrichs Planung vor. Ein kleiner Wohnraum mit angeschlossener Küche befand sich gleich hinter der Haustür. Von dort führten drei schmale Türen in die winzigen Schlafzimmer. Mehr gab es nicht. Gebadet wurde in einer kleinen Wanne im jeweiligen Schlafzimmer und die Wäsche wurde im See gewaschen.
Als Julie eintrat, fiel ihr Blick als erstes auf Hugh, der am Tisch saß und über den Unterlagen für den morgigen Unterricht brütete. Es gab keinen Lehrer unter den Einwanderern und so hatte jemand anderer die Stelle vorerst übernehmen müssen. Zunächst war die Wahl des Stadtrats auf Friedrich gefallen, doch dieser sah sich neben seinem Kirchendienst nicht dazu in der Lage, auch noch eine Schar von knapp fünfzig Kindern zu unterrichten und zu bändigen. Nach einigen Überlegungen hatten sie schließlich Hugh gebeten, die Aufgabe so lange zu übernehmen, bis mit einem anderen Siedlertreck vielleicht ein Lehrer ankommen würde. Zu Anfang war Hugh nicht begeistert gewesen von dieser Idee. Er selbst war gerade einmal neunzehn Jahre alt und was konnte er den Kindern schon beibringen? Gut, er beherrschte am besten Englisch von allen hier, inzwischen sogar besser als seine Schwester und er hatte in Deutschland die höchste Schule besucht. Dennoch war er dem Vorschlag zunächst sehr skeptisch gegenübergestanden. Er hatte noch nie unterrichtet und er besaß auch im Umgang mit Kindern nicht viel Erfahrung. Inzwischen lagen jedoch drei Wochen zurück und er hatte sich einige Bücher zusammengeliehen, ein paar aus dem Fort, andere von Bürgern des Ortes. So hatte er zumindest eine gewisse Grundlage für das, was er neben Englisch und Rechnen noch unterrichten konnte. Er begrüßte die Entscheidung des Stadtrats sehr, schnellstens richtige Schulbücher aus dem Osten zu bestellen und konnte ihre Ankunft kaum erwarten. Für Montag nahm er sich immer Erkunde zur Brust und deshalb blätterte er jetzt eifrig in einem Atlas mit bunten Bildern und einem Buch über die Substanzen im Erdboden und den Aufbau der verschiedenen Vegetationszonen. Dass er sich diesen wertvollen Band von Captain Harbach hatte persönlich ausleihen dürfen, machte Hugh besonders stolz und er behandelte ihn mit größter Sorgfalt.
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