„Gut so.“ Hardy schob die Röcke über Geertjes Schenkel nach oben und schob ihre Beine auseinander. Julie schluckte, peinlich berührt. Sie fragte sich, ob es ihr wohl eines Tages auch so ergehen würde, wenn sie ein Kind erwartete und eine seltsame Reaktion der Abwehr gegen dieses Geschehen machte sich in ihr breit. Sie wusste, dass Geertje sich sehr schämen würde, wenn sie wüsste, dass ein fremder Mann – auch, wenn er Arzt war – sie dort untersuchte, wo niemand das Recht dazu hatte.
„Ich glaube, wir haben Glück“, sagte Hardy in Julies Gedanken hinein. Er atmete leise auf. „Da ist es.“
Julie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wovon der junge Österreicher sprach. Dann lag es vor ihr – winzig, mit einer eigenartigen Kopfform, doch eindeutig ein Mensch, mit noch unausgebildeten Armen und Beinen, der tote Fötus. Übelkeit stieg in ihr hoch und sie musste den Blick davon abwenden. Eilig wickelte Hardy es in ein Stück Stoff, der im Wagen lag, um sich dann zu dem Topf herumzudrehen, aus dem immer noch das Wasser dampfte und es unerträglich heiß werden ließ unter dem Leinenstoff des Wagens. Jedenfalls erschien es Julie so.
„Machen Sie jetzt bitte nicht schlapp!“, raunte Hardy leise, als er im Schein der Lampe ihr weißes Gesicht bemerkte. „Ich brauche Sie hier dringender als jemals zuvor!“
Julie nickte tapfer und zwang sich, ihren Blick auf Geertje zu richten, die bewusstlos vor ihr lag, die Augen geschlossen, jedoch ruhig atmete.
„Ich muss ihren Uterus ausschaben“, erklärte Hardy, als spräche er zu einem unerfahrenen Medizinstudenten, wie er es immer tat, wenn sie dabei war, wenn er arbeitete. „Sonst verblutet sie. Ich hoffe, ich erwische alles.“
Julie wollte schon fragen, wovon er alles erwischen musste, verkniff es sich jedoch im letzten Moment. Sie beobachtete den Arzt dabei, wie er mit einem anderen Instrument eines aus dem kochenden Wasser fischte und es einige Sekunden auskühlen ließ. Dann beugte er sich über Geertje und Julie senkte den Blick. Sie wollte nicht sehen, was weiter geschah. Sie hörte die junge Norwegerin leise stöhnen und drückte sie fester auf den Wagenboden. Dann wiederum hörte sie Doktor Retzner leise fluchen und die ganze Zeit über vernahm sie dieses seltsame Geräusch – manchmal schmatzend, manchmal kratzend. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Minuten oder sogar eine halbe Stunde. Endlich jedoch sagte Hardy. „Gut, Sie können sie loslassen.“
Langsam richtete Julie sich auf. Sie fühlte sich entsetzlich erschöpft und ihre Hände zitterten. Geertje war noch immer ohne Bewusstsein.
„Was ist mit ihr?“
Der junge Arzt rang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln durch.
„Der Whiskey, die Schmerzen...sie wird es schaffen, hoffe ich.“ Er seufzte und machte einen Knoten in einen Lappen, sodass niemand sehen konnte, was darin steckte, doch Blut durchweichte ihn von innen heraus. „Wenn ich nur in sie hineinsehen könnte und wüsste, ob ich wirklich alles herausbekommen habe.“ Er schüttelte kurz den Kopf, dann übergoss es seine Hände erneut mit Whiskey und holte danach seine restlichen Instrumente aus dem Topf, um sie wieder in seiner Tasche zu verstauen. „Sagen zu müssen, ich habe alles getan, was in meiner Macht steht und doch nicht sicher sein zu können, ob sie durchkommt oder nicht – das ist das Schlimmste.“
Sacht legte Julie eine Hand auf die seine. Sie lächelte mitfühlend, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sie fand keine Worte für das, was sie empfand und er verstand sie auch so. Aufmunternd tätschelte er ihren Unterarm.
„Wir müssen Torbjörn Bescheid geben und uns allmählich schlafen legen. Sonst sind wir beide die nächsten Patienten.“
Er richtete Geertjes Unterröcke und deckte sie zu, dann kletterte er aus dem Wagen. Den zugeknoteten Lappen nahm er mit. Julie beeilte sich, ihm zu folgen und nahm seine Tasche an sich.
Torbjörn musste die ganze Zeit über zwischen den Wagen hin und her gelaufen sein, denn er kam von rechter Seite angestürmt, als er Doktor Retzner erblickte. „Endlich! Das hat ja ewig gedauert!“
Die meisten Lagerfeuer waren mittlerweile vollständig heruntergebrannt und Hardy konnte das Gesicht des jungen Norwegers nicht erkennen.
„Tut mir leid, schneller ging es nicht.“ Er wartete, bis Julie neben ihm stand, ehe er fortfuhr: „Ihre Frau hat das Kind leider verloren.“
Eine lange Minute herrschte Stille. „Das Kind?“, wiederholte Torbjörn verblüfft. Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung davon gehabt hatte. „Sie...Sie meinen...“
„Ja“, entgegnete Hardy bedacht. „Es liegt noch drinnen, im Wagen. Ich denke, Sie werden es sicherlich morgen früh beerdigen wollen.“
„Hmm“, machte der junge Mann hilflos und biss sich auf die Lippen. „Was...was ist mit Geertje?“
Der junge Arzt musste sich einen Ruck geben. „Das werden die nächsten Stunden zeigen“, gab er ehrlich zu. „Sie wird bald wieder zu sich kommen. Passen Sie genau auf, ob Sie irgendwelche Veränderungen an ihr bemerken. Und sollte sie Blutungen oder Fieber bekommen, holen Sie mich sofort, ganz gleich um welche Uhrzeit, verstanden?“
Torbjörn nickte stumm. „Darf ich jetzt zu ihr?“
„Natürlich. Gute Nacht.
„Gute Nacht, Doktor und vielen Dank.“ Der junge Norweger kletterte in seinen Wagen und ließ Hardy und Julie allein zurück.
„Wie spät es wohl sein mag?“, fragte Julie leise und gähnte.
Hardy lächelte. „Gehen Sie schlafen, Julie-Mädchen. Es ist spät und ich weiß nicht, ob wir nicht in ein paar Stunden wieder gebraucht werden.“ Er deutete auf den seltsam anmutenden Beutel in seiner Hand. „Ich muss das vergraben. Nicht, dass noch Wölfe oder andere Tiere das Blut riechen.“
Er ging davon, um einen Spaten zu holen und ließ Julie allein zurück mit ihrer Verwirrung und den tausend Fragen, die sie beschäftigten.
Der nächste Morgen brach schneller herein als erwartet und weder Hardy, noch Julie fühlten sich ausgesprochen wohl in ihrer Haut. Sie waren müde und erschöpft von den Geschehnissen, über die Friedrich sogleich unterrichtet wurde. Geertje hatte die Nacht gut überstanden. Es waren keine Blutungen aufgetreten und auch kein Fieber und obwohl sie noch sehr schwach und blass war, konnte Hardy doch guten Gewissens behaupten, dass sie es vermutlich schaffen würde.
Zwei Männer halfen Torbjörn beim Ausheben des kleinen Grabes und noch am frühen Vormittag fand die Beerdigung für das kleine Mädchen statt, das nicht einmal ein halbes Jahr alt geworden war und nie das Licht dieser Welt hatte erblicken dürfen. Geertje wollte dabei sein, doch Doktor Retzner erlaubte es nicht.
„Sie müssen eine Woche lang im Wagen liegenbleiben, haben Sie mich verstanden?“
„Aber, Doktor...“, wollte die junge Frau protestieren, doch Hardy ließ sie nicht aussprechen: „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist und wenn Sie jemals Ihre neue Heimat zu sehen bekommen wollen, dann tun Sie, was ich Ihnen sage!“
Seine eindringlichen Worte zeigten Wirkung und Geertje blieb mit Julie im Wagen zurück, wo sie haltlos weinte. Hilflos saß Julie neben ihr und streichelte ihren Rücken, während Geertje von lautem Schluchzen geschüttelt wurde. Sie fühlte tiefes Mitleid mit der jungen Frau, doch konnte sie ihren Kummer nicht wirklich nachvollziehen. Sie erschrak ein wenig über dieser Erkenntnis. Hatte ihr Vater sie nicht Zeit ihres Lebens gelehrt, dass es nichts Wertvolleres gab, als das Leben selbst?
Nein, sie konnte es nicht, denn in ihrer Vorstellung wollte sie nicht zulassen, dass der Tod etwas Endgültiges, etwas alles Beendendes war. Es musste noch mehr geben, was danach kam, ein neues Leben vielleicht oder ein Dasein als Engel – irgendetwas! Julie senkte den Kopf und schloss die Augen. Nein, ihrem Vater durfte sie davon nichts anvertrauen. Es gab überhaupt niemanden, der ihre Überlegungen diesbezüglich hätte begreifen können, niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte und der sie vielleicht verstand.
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