Er wollte aufstehen und sich unter den Wagen zu Friedrich und Hugh legen, denn im Inneren schliefen die Frauen und Nikolaus. Er verabscheute den Platz auf der harten, feuchten Erde, doch es gab keine Alternative, weder für ihn, noch für Hugh oder Friedrich. Da vernahm er eilige Schritte, die sich ihnen näherten.
„Oh, da kommt Mr. Stromson!“, sagte Julie erstaunt.
Greetje und Torbjörn Stromson waren ein junges Ehepaar aus Norwegen, beide Anfang zwanzig und hochmotiviert, was ihre Zukunft anbetraf. Sie stammten aus ärmlichen Verhältnissen und wollten diesen entfliehen. So hatten sie sich ein wenig Geld gespart, um mit dem Schiff nach Amerika auswandern zu können. Julie kannte die beiden recht gut, denn sie hatten sich dem Treck schon in New York, zusammen mit ihnen angeschlossen und außerdem hatte Friedrich ihnen das Geld für die Rate an ihren Führer geliehen, weil sie es nicht hatten bezahlen können.
„Doktor?“, fragte der junge Mann mit den Sommersprossen und den sehr blonden Haaren.
„Was gibt es?“ Alarmiert sprang Hardy auf die Beine. Niemand fragte umsonst nach ihm.
„Könnten Sie vielleicht einmal nach meiner Frau sehen?“, raunte Torbjörn leise, um keinen der anderen zu wecken. „Sie hat starke Schmerzen und ich weiß auch nicht...“
„Ich komme!“, fiel Hardy ihm eilig ins Wort und trat an den Wagen, um lautlos seine Instrumententasche herauszuholen. „Wo ist sie?“
„Dort hinten! Ich zeige es Ihnen!“ Besorgt rannte der junge Ehemann ihnen voraus. Ganz von selbst schloss sich Julie ihnen an, denn sie war es gewohnt, dem Österreicher immer eine Hilfe zu sein. So oft hatte er sie in der Vergangenheit schon gebraucht und vielleicht musste sie ihm auch diesmal zur Hand gehen.
Geertje lag im Inneren ihres kleinen Planwagens und wand sich vor Schmerzen. Torbjörn schob den Leinenstoff beiseite und wollte hineinklettern, doch der Arzt hielt ihn zurück.
„Lassen Sie mich und Julie nach ihr sehen! Warten Sie hier!“
Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes verriet, dass er der Aufforderung nur ungern nachkam, doch er wagte nicht, zu widersprechen und ließ Doktor Retzner und das Mädchen gewähren. Hastig kniete Hardy sich neben die junge, blonde Frau.
„Zünden Sie eine Lampe an“, bat er Julie, die nach einem kurzen Rundumblick nur eine einzige entdecken konnte. Ihr Schein verbreitete nur schwaches Licht, doch es reichte aus, um den Ernst der Lage erkennen zu lassen.
Vorsichtig legte Doktor Retzner der jungen Norwegerin seine Hand auf die schweißbedeckte Stirn. Danach tastete er ihren Bauch ab und seufzte.
„Haben Sie gewusst, dass Sie guter Hoffnung sind?“, fragte er sehr leise, sodass Torbjörn es draußen nicht verstehen konnte.
Geertje nickte heftig. Sie schluchzte leise auf. „Ich...ich glaube schon, aber ich war mir nicht sicher.“
„Sind Sie heute gestürzt? Oder haben Sie irgendwelche schweren Gegenstände hochgehoben?“, fragte Hardy leise, sie sehr genau beobachtend.
Wieder schluchzte die junge Frau auf, diesmal unbeherrschter. „Ich...bin...vom Wagen gefallen, vorhin, als...als wir hier angekommen sind, aber...es war nicht schlimm! Wirklich nicht!“
Hardy nickte. Ein schmerzlicher Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Er gab Julie einen Wink.
„Sie müssen ihr so viel Whiskey einflößen, wie Sie nur fertigbringen! Verstanden?“ Er sprach nun Deutsch mit ihr, um sicherzugehen, dass niemand sonst sie verstehen konnte. Er griff in seine Tasche und brachte eine Flasche zum Vorschein.
Julie nickte nervös. Sie wollte wissen, was mit Geertje los war und wagte doch nicht, danach zu fragen, denn schon beugte Doktor Retzner sich nach draußen und befahl Torbjörn mit leiser Stimme: „Nehmen Sie einen der Männer mit, die Wache stehen und holen Sie einen Topf mit frischem Wasser! Den stellen Sie auf eines der Feuer, bis es sprudelnd kocht! Ich brauche frisches, kochendes Wasser, klar?“
„Ja...ja...“, stammelte der bemitleidenswerte, ahnungslose Ehemann und rannte davon, in die dunkle Nacht hinaus.
„Und jetzt?“, wollte Julie wissen. Sie gab Geertje einen Zinnbecher nach dem anderen zu trinken. Die junge Frau schüttelte sich.
„Ist das eine eklige Medizin!“
„Mehr!“, sagte Doktor Retzner nur, während er bereits seinen Instrumentenkoffer öffnete. „Ich wünschte, ich hätte etwas Äther bei mir, aber daran habe ich nicht gedacht, muss ich zu meiner Schande gestehen. Ich bin mir sicher, Doktor Stankovski hätte mir welchen mitgegeben.“
Der Alkohol zeigte bereits nach wenigen Bechern seine Wirkung, denn Geertje trank sonst nie und sie sank in einen weggetretenen Dämmerzustand.
„Was fehlt ihr denn?“, fragte Julie schließlich, als sie sicher war, dass Geertje nicht mehr bewusst wahrnahm, was sie sprachen und drückte den Pfropfen zurück auf die Flasche.
„Sie wird das Kind verlieren“, erwiderte Hardy ernst und schob den Rock mitsamt den Unterröcken nach oben. „Wir müssen es holen.“
Julie schluckte. „Es...holen?“
Sie war nur zweimal bisher bei einer Geburt dabei gewesen. Das erste Mal bei der Frau des Bürgermeisters. Bei dieser war es so schnell gegangen, dass sie das Kind bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer, auf der Treppe bekommen hatte und das zweite Mal bei einer Farmersfrau. Auch bei ihr hatte es keine drei Stunden gedauert, ehe ihr zwölftes Kind das Licht der Welt erblickt hatte. Keine der beiden Frauen hatten geschwitzt oder sich vor Schmerzen gewunden wie Geertje hier und Julie fragte sich, was der Unterschied war, denn immerhin waren die beiden Säuglinge der anderen Frauen bereits voll ausgebildet gewesen und viel größer als Geertjes Kind im Augenblick noch sein musste. Unter ihren Röcken zeichnete sich nur ein winziges Bäuchlein ab.
Ein mulmiges Gefühl überkam Julie, denn sie spürte, dass dies hier etwas anderes, etwas Bedrohliches war. Sie beobachtete Hardy Retzner dabei, wie er Geertje an ihrer intimsten Stelle untersuchte, die sonst nur ihr Ehemann zu sehen bekam und sie fragte sich, wie Torbjörn wohl darauf reagieren würde, wenn er das sehen könnte.
Schließlich richtete Hardy Retzner sich auf. Er seufzte tief, als er die nächste Wehe durch den Körper der jungen Frau gehen sah und hörte, wie sie leise aufstöhnte.
„Vielleicht haben wir Glück und ihr Körper stößt den Fötus alleine aus. Wir müssen abwarten.“
Von draußen erklangen Schritte und er beeilte sich, den Topf mit heißem Wasser bereits draußen entgegenzunehmen, sodass Torbjörn nicht ins Innere sehen konnte.
„Was ist mit ihr, Doktor?“, hörte Julie ihn verzweifelt fragen. „Sie schafft es doch, nicht wahr?“
Sie merkte, wie Hardy einen Moment zögerte, ehe er antwortete: „Natürlich wird sie es schaffen! Aber bitte warten Sie draußen, ich rufe Sie dann, wenn wir soweit sind!“
Er stellte den Topf neben sich ab, aus dem das kochende Wasser dampfte und zog den Leinenstoff hinter sich zu, sodass von draußen nicht hereingesehen werden konnte. Dann krempelte er sich die Ärmel seines Hemds hoch.
„Machen Sie das auch!“, befahl er Julie, ehe er nach dem Whiskey griff, mit dem er seine Hände übergoss und die Flasche dann an Julie weiterreichte. „Wir müssen sehr sauber arbeiten, wenn wir sie retten wollen.“
Julie schluckte. Zum ersten Mal spürte sie die enorme Verantwortung, die auf den Schultern eines Arztes lastete und sie merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Ganz ruhig, sagte sie sich, es kann dir nichts passieren! Doch die Angst vor dem Unbekannten blieb.
Geertje stöhnte wieder auf und wand sich unter einer erneuten Wehe.
„Halten Sie sie fest! Sie macht es nur schlimmer“, sagte Hardy, während er aus seinem Instrumentenkoffer die unterschiedlichsten Geräte herausnahm und in das kochende Wasser legte.
Julie fasste die junge Frau, nur ein paar Jahre älter als sie selbst, an den Schultern und drückte sie zu Boden.
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