Wieder schnellt ein Blick zu ihr auf und haftet prüfend: »Sie sind wohl sehr fromm? Na ja, das steht jungen Mädchen immer gut – wie ein weißes Kleid.«
Jetzt ist sie nahe daran, ihn laufen zu lassen, aber ein tiefes Mitleid hält sie fest. Sie gehen eine Weile stumm nebeneinander, verwunderte Blicke streifen das seltsame Paar.
Da fängt er von selber an: »Wenn ich Sie wäre – ich wüßte schon, was ich heute und morgen täte. Sie haben gewiß einen Liebsten, und wenn Sie noch keinen hätten, könnten Sie bald einen haben. Wissen Sie – ich würde das Leben austrinken bis auf den Grund.«
Sie macht eine Bewegung, als wolle sie umdrehen, aber es zieht sie zu dem kleinen, häßlichen Menschen zurück. Ein Hustenanfall erschüttert ihn. Er speit ohne Scheu auf das Pflaster. Dann lächelt er sie verschmitzt an: »Ich habe wohl eine große Sünde gesagt? Aber sehen Sie: wenn doch alles zu Ende ist – und es ist einmal so, trotz Ihres Glaubens – dann ist auch die Sünde aufgehoben. Sterbende nehmen sich untereinander nichts mehr übel. Man macht seine Abrechnung und zieht alle Forderungen ein, die man noch ans Leben hat. Ja, wenn ich so könnte!« Er lacht in sich hinein. »Spotten Sie mich nicht aus: ich habe nur einmal in meinem Leben Wein getrunken, als ich im Krankenhause lag. Das tat gut. Ich möchte zum Schluß noch eine einzige Flasche Wein trinken. Stehlen? Ich weiß nicht, was das in mir ist – es gibt ja kein Eigentum mehr –, aber es würde mir nicht schmecken.«
Sigrid nestelt ihre Handtasche auf, sie hat gerade ihren Monatslohn darin, und holt einen Schein heraus. »Würden Sie das annehmen?«
»Von Ihnen, ja. Ich danke.« Er bleibt stehen und sieht mit einer Weichheit zu ihr auf, die seine Unschönheit mildert. »Wie soll man nun sagen: Leben Sie wohl oder sterben Sie wohl? Ich sage: Leben Sie wohl.«
Sie kann sich nicht enthalten zu fragen: »Wer sind Sie eigentlich?«
»Ich heiße Philander. Alles übrige ist gleichgültig.«
Er ist in einer Nebengasse verschwunden. Sigrid fühlt noch seine schweißig-kalte Hand; sie muß ein Grauen abschütteln, und doch, der Armselige hat sie im Innersten getroffen. Sie geht wie betäubt die breite Straße hinunter, die, wie immer, von Wagen und Spaziergängern belebt ist. Hinter dem Triumphtor alter Könige, das von Siegen und ewigem Ruhme redet, glüht das Abendgewölk. Die Sonne samt ihrem unheimlichen Widersacher ist verschwunden – für diese Nacht. Es ist, als atme man hier unten auf, und jeder gäbe sich noch einmal sorglos dem geliebten Leben hin.
Plötzlich durchglüht es sie: wenn es die letzte Nacht wäre? Und wie ein Dieb in der Nacht das Verderben käme! Dorther, wo es in grauen Wolken glimmt und schwelt! Geliebter – wenn wir uns nicht mehr erreichten! Wie sagtest du doch? »Das Letzte gehört uns allein!« Rufe mich, rufe mich, eh es zu spät ist, daß wir das Leben austrinken bis auf den Grund!
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