So eiskalt wie die Täter die Geldübergabe organisiert haben, so cool verläuft ihr Abzug. Ihren Geiseln haben sie die Hände mit langen Elektrokabeln vor dem Bauch gefesselt, führen sie „wie an der Hundeleine“ (Rösner).
Als erste tauchen Rösner und Alles aus der mittlerweile abgedunkelten Bank auf, zwängen sich in den Audi. Degowski will auf dem Weg zum Wagen die Geisel Blecker auf fast pervers anmutende Art bedrohen. Mit einem Spültuch hat er sorgfältig den Lauf seines Trommelrevolvers abgewischt, um ihr das Rohr in den Mund zu stecken. Nur mit dem flehentlichen Hinweis auf ihre „empfindlichen Zähne“ erreicht die Bankangestellte, dass Degowski davon ablässt. Stattdessen hält er seinem Opfer die Waffe an den Hals.
Um 21.47 Uhr, nach fast 14 Stunden Nervenkrieg, haben Rösner und Degowski erreicht, was sie wollten: Geld, Auto, freien Abzug.
Unter dem Blitzlichtgewitter von Pressefotografen und vor laufenden Fernsehkameras rollt der Fluchtwagen im Schritttempo vom Gelände des Einkaufszentrums. Rösner sitzt am Steuer, Degowski zwischen den beiden Geiseln auf den Rücksitzen. Die Polizei hat ihnen durch den Pressepulk eine Schneise freigesperrt, eskortiert das Fahrzeug auf den ersten Kilometern durch Gladbeck.
Weil die Täter sicher sind, dass der Wagen verwanzt ist, wird kein Wort gesprochen. Doch die Geiseln sind zuversichtlich, dass die Tortur bald ein Ende haben wird.
Degowski verspricht Andrea Blecker kurz vor der Abfahrt die Freilassung: „In ein paar Stunden lassen wir euch raus.“
Rösner aber hat zunächst vor allem einen Wunsch: Er will den neu gewonnenen Reichtum mit seiner Freundin Marion Löblich teilen. Nach der aber fahndet die Polizei vergebens seit dem Nachmittag.
Deren 13-jährige Tochter Nicole kommt gegen Mittag ganz aufgeregt aus der Schule. Überall sei Polizei, berichtet das Mädchen seiner Mutter, halb Gladbeck sei abgesperrt.
Neugierig schaltet Marion Löblich das Radio ein, hört im Westdeutschen Rundfunk die Nachricht von einem Bankraub in Rentfort-Nord. Zwei unbekannte Männer haben am Morgen, kurz vor acht, die Filiale der Deutschen Bank im nahe gelegenen Einkaufszentrum überfallen und zwei Geiseln in ihre Gewalt gebracht.
Marion Löblich, die halbtags im Altenzentrum der Arbeiterwohlfahrt arbeitet, hat ein „ungutes Gefühl“. Sie weiß, dass ihr Freund Hans-Jürgen Rösner die gemeinsame Haushaltskasse mit Einbrüchen und Überfällen aufbessert. Längst fragt sie nicht mehr nach der Herkunft, wenn Rösner mal wieder unverhofft bündelweise Hundertmarkscheine auf den Küchentisch packt. Sie weiß auch, dass Rösner mit Haftbefehl gesucht wird. Mit ihrem Einverständnis hat er sich im Kinderzimmer einen Verschlag gezimmert, hinter dem er sich selbst, Einbruchswerkzeug und Diebesbeute verstecken kann.
In böser Vorahnung nimmt Marion Löblich ihre Tochter Nicole und flüchtet zu Rösners Schwester Renate. „Die Bank, die Bank, ich glaub', der Hanusch ist da drin“, stammelt sie weinend. Von einem Verwandten erfährt sie telefonisch, dass die Polizei ihre Wohnung durchsucht. Nun ist sie ganz sicher, dass Rösner sein Versprechen, irgendwann „einen großen Coup“ zu landen, wahr gemacht hat. Fortan hat sie nur noch eine fixe Idee: „Ich muss zum Hanusch.“
Dass sich diese schüchterne, unsicher wirkende Frau, die ebenfalls die Sonderschule besucht hat, auf ein derart kriminelles Abenteuer einlässt, erklärt sich nur aus der ganz besonderen Beziehung zu ihrem Geliebten. Auf ihrer lebenslangen Suche nach einem festen Halt glaubt sie in Rösner endlich jenen „harten Kerl“ gefunden zu haben, auf den man sich verlassen kann.
Animiert durch Rösner, berauscht sie sich wie er mit Bier und Vesparax-Tabletten, lässt sich, um Rösner „einen Gefallen zu tun“, nach einem Gelage zum Sex mit Degowski überreden. „Sie tat alles, was ich ihr sagte“, beschreibt Rösner das Verhältnis, „sie war mir hörig.“
Das psychiatrische Gutachten, das dem Essener Landgericht zum Prozess vorliegt, scheint Rösners Einschätzung zu bestätigen. Die Gerichtsmediziner bescheinigen Marion Löblich „eine labile und unberechenbare Persönlichkeit“ mit „Neigung zur Abhängigkeitshaltung“.
Nur ihr fast unterwürfiges Verhältnis zu Rösner macht begreiflich, warum sich Marion Löblich auch nach der Geiselnahme für ihn bereithält. Da sie bei Rösners Schwester Renate, die mit der ganzen Sache nichts zu tun haben will, nicht bleiben kann, sucht sie am Nachmittag bei Rösners Schwester Monika und deren Ehemann Zuflucht.
Aufgeregt verfolgt sie die Rundfunkberichte über den Bankraub, hofft, dass sich Hanusch nach der Flucht bei seiner Schwester melden wird.
Um ihre Aufregung zu dämpfen, schluckt Marion Löblich abends Vesparax-Beruhigungstabletten, ausnahmsweise mal ohne Bier, legt sich ins Bett und wartet auf ihren Freund Hanusch. Doch der aber hat ganz andere Pläne, verblüfft Polizei und Freunde.
Kaum rollen die Geiselnehmer um 21.47 Uhr mit ihren Opfern im Fluchtwagen aus der Passage vor der Deutschen Bank, irritieren sie die Fahnder durch „völlig atypisches Verhalten“ (Polizeibericht). Anstatt möglichst unauffällig in der Dunkelheit unterzutauchen, bleiben sie in Gladbeck, zeigen sich ganz offen.
Weil Rösner und Degowski dringend Bier und Vesparax-Tabletten brauchen, um sich weiter aufzuputschen, und die Geiseln Andrea Blecker und Reinhold Alles, die den Tag über kaum etwas gegessen haben, hungrig sind, starten sie mit dem von der Polizei bereitgestellten weißen Audi zu einer irrwitzigen Einkaufsfahrt.
An einer Esso-Tankstelle muss ein zufällig vorbeikommender Bekannter Rösners („Kalle, komm mal her“) drei Stangen Zigaretten holen. Vor einem Kiosk winken die Täter einen Jungen heran, der Bier und Süßigkeiten einkauft und auf sein Trinkgeld verzichtet: „Ich weiß, wer ihr seid.“
In die Imbissstube „Mostar“ geht Rösner persönlich rein: „Hier ist der Bankräuber aus Gladbeck, macht keinen Scheiß, wir wollen nur was zu essen.“ Mit vorgehaltener Waffe ordert er zehn Frikadellen, ein Hähnchen und ein Kotelett. Die Rechnung begleicht er mit einem Hundertmarkschein aus der Beute.
An der nächsten Station, der Barbara-Apotheke in der Innenstadt, werden die Bankräuber schon erwartet. Durch das im Wagen versteckte Mikrofon wissen die Polizeibeamten, dass die Täter Tabletten kaufen wollen. Die Polizei informiert vorsorglich den Apotheker, der die von Rösner geforderte rezeptpflichtige Vesparax-Packung anstandslos herausrückt.
Für den Bankangestellten Alles, dem die Aufregung auf den Magen geschlagen ist, steckt der Bankräuber noch ein Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen ein.
Zur Flucht ins Ausland fehlt nach Ansicht Rösners jetzt, wo die Marschverpflegung komplett ist, nur noch ein Wagen ohne Polizeiwanzen. Den will er sich vor einer Kneipe „wegfiedeln“, die dafür bekannt ist, dass ihre Gäste „immer dicke Autos“ fahren.
Mit gezückter Pistole stürmt der bärtige Rösner an die Theke der Raststätte „Berg“ am Gladbecker Stadtrand: „Der Nikolaus ist da! Wem gehört der 635er vor der Tür?“ Da er keine Antwort bekommt, haut Rösner mit der Waffe in der Hand auf den Tresen, ballert los.
Die Kugel zischt nur wenige Zentimeter über den Kopf eines Gastes hinweg, der Rösner, ohne es zu wissen, überhaupt erst das Rüstzeug für die Geiselnahme geliefert hat: Gerd Meyers.
Der gelernte Schweißer, der „Waffen faszinierend“ findet, hatte an einen Mittelsmann zwei schwere Waffen verkauft: eine Selbstladepistole Modell „Colt Government“ (Kaliber 9 Millimeter Luger) und einen Trommelrevolver Typ „Highway Patrolman“, Kaliber 357 Magnum.
Dass die Waffen ausgerechnet an den in der Gladbecker Szene berüchtigten Rösner weiter verhökert wurden, will Meyers nicht gewusst haben.
Ausdrücklich sei der Vermittler vergattert worden, die Waffe nur an „eine vernünftige und seriöse Person“ weiterzugeben, „die nicht gleich an der nächsten Ecke jemanden erschießt“.
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