Gerade hatte der Minister wieder Kriminalstatistik vorgestellt und betonte mit Genugtuung wie erfolgreich seine Einsatzkräfte dieses Delikt der Geiselnahme bekämpften: „Geiselnehmer haben bei uns im Land keine Chance.“
Doch der markige Spruch täuscht. Der sich seit 1980 im Amt befindliche Herbert Schnoor ist kein rigider Verfechter von Law und Order. Der aus Ostfriesland stammende gelernte Verwaltungsjurist ist ein liberaler Innenminister. Der damalige NRW-Ministerpräsident und späterer Bundespräsident Johannes Rau rühmt seinen Innenminister gern als Garanten sozialdemokratischer Rechts- und Sicherheitspolitik.
Noch konnte Schnoor nicht ahnen, dass ihn jener Dienstag im August 1988 fast den Posten gekostet hat.
Zunächst nimmt er beruhigt zur Kenntnis, dass sein langjähriger Mitarbeiter, der 47-jährige Friedhelm Meise, seines Zeichens Leitender Kriminaldirektor, vom Polizeipräsidium Recklinghausen den Einsatz leitet. Schnoor weiß, dass „Meise in der Polizei einen guten Ruf hat“.
Meise hat sich seine Verdienste vor allem am Schreibtisch erworben. Vor seinen Aufstieg 1987 zum Kripochef in Recklinghausen bearbeitete der Verwaltungsfachmann Akten im Referat Kriminalpolizei des Düsseldorfer Innenministeriums.
Noch davor saß er acht Jahre lang im Landeskriminalamt, war Dezernent für Organisierte Kriminalität. Praktische Erfahrungen im Umgang mit Kapitalverbrechern sammelt Meise nach dem Geiseldrama als Mitglied einer Beratergruppe. Verantwortlicher Krisenmanager vor Ort war für ihn Neuland.
Die Nachfrage im Düsseldorfer Untersuchungsausschuss, ob er vor Gladbeck Erfahrungen als Einsatzleiter hatte, muss er acht Monate nach den Ereignissen mit „Nein“ beantworten.
In Gladbeck ist eine Lage entstanden, wo selbst erfahrene Einsatzleiter überfordert wären. „Neuling“ Meise stellt fest: In der Bank die immer gereizter reagierenden Täter Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, in deren Gewalt die von panischer Angst erfassten Bankangestellten Reinhold Alles und Andrea Blecker sind; draußen über 300 Polizisten, darunter Spezialkommandos aus ganz Nordrhein-Westfalen.
Diese treffen am Tatort mehr oder weniger schlecht orientiert ein und versuchen, sehr mangelhaft koordiniert, die Arbeit aufnehmen.
Das Einsatzprotokoll vermerkt, dass um 10.10 Uhr in der Einsatzzentrale, im Polizeiamt am Gladbecker Jovyplatz, Meise seine ersten Anordnungen trifft: Absperrungen verstärken, provozierende Aktionen vermeiden, Telefongespräche abhören, präpariertes Fluchtfahrzeug bereitstellen, Notzugriff vorbereiten.
In der Bank spürt Degowski, dass er und sein Kumpel Rösner in der Falle sitzen. Von einer Stehleiter und vom Dach der Kassenbox erspähen sie durch das Oberlicht stahlhelmbewehrte Männer eines Spezialeinsatzkommandos (SEK), die mit Maschinenpistolen in Stellung liegen. Anders als in der Anfangsphase, in der Rösner auf einen Zivilbeamten feuert, zwingt er sich diesmal zur Beherrschung. Obwohl er einen SEK-Mann direkt im Visier hat („Ich hätte jetzt schon so auf den Mann schießen können“), drückt er nicht ab.
Übermächtiger innerer Druck lastet auf Rösner und Degowski. Nur durch wildes Herumballern in der Bank können sie sich davon befreien; sie schießen um sich wie volltrunkene Cowboys. Komischerweise funktioniert das Telefon. Die Telefonnummer 02043/24092, unter der die Zweigstelle der Deutschen Bank in Rentfort-Nord erreichbar ist, wird zum Geheimtipp für Journalisten aus der ganzen Republik. Reporter und Zeitungen rufen an, darunter auch Vertreter des WDR. Rösner fühlt sich nicht ernst genommen. Er feuert mit seinen „Colt Government“-Pistole (Kaliber neun Millimeter Luger) in die Decke. Degowski, dem ebenfalls die Nerven durchgehen, jagt mit seinem Trommelrevolver „Highway Patrolman“ eine Kugel in das Lamellendach des Kassenraums.
Andrea Blecker verkriecht sich in der Kassenbox, schreit, dass sie „das Knallen nicht mehr ertragen“ kann.
Sie ist der Hysterie nah. „Mach den Mund auf, wenn's kracht, dann ist es nicht so schlimm“, empfiehlt Rösner.
Der aus Essen angereiste Staatsanwalt Hans-Christian Gutjahr will Rösner und Degowski mit einer nicht unproblematischen Zusage ködern, um die Geiseln zu erlösen. Ein sehr ungewöhnlicher Plan.
Am Telefon wird den Tätern „ein optimales, großzügiges Angebot“ durch den 41-jährige Polizeioberrat Horst Tiemann, der sich als Gutjahr ausgibt, unterbreitet. Wenn sie bedingungslos kapitulieren und ihre Geiseln innerhalb einer Stunde freilassen, werde die Staatsanwaltschaft vor Gericht nur sechs Monate Freiheitsstrafe beantragen. Andernfalls droht Tiemann alias Gutjahr, ihnen „die ganze Härte des Gesetzes zukommen zu lassen“.
Dieses Angebot ist ungewöhnlich aber juristisch zulässig.
Das Strafgesetzbuch sieht vor, dass ein Geiselnehmer, der „das Opfer unter Verzicht auf die erstrebte Leistung in dessen Lebenskreis zurückgelangen lässt“, mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten davonkommen kann. Das wird jedoch nicht so von der Öffentlichkeit geteilt, denn die missverständliche Wortwahl in Interview lässt den Schluss zu, dass der Staatsanwalt den Gladbecker Geiselnehmern ein Sonderrecht einräumen will. Es hagelt öffentlich Kritik.
Trotz seines mangelnden Intellekts verfügt Rösner über eine Art „Bauernschläue.“ Auch die jahrelange „Knasterfahrung“ verbietet ein Aufgeben, selbst zu Sonderkonditionen.
Zum einen misstraut er dem staatsanwaltlichen Ehrenwort: „Ich kenn die gesamte Justiz und die Polizei.“
Und zum anderem weiß er, dass er ohnehin noch eine Reststrafe von 437 Tagen zu verbüßen hat und selbst, wenn ein Gericht Milde walten lässt, für lange Zeit wieder hinter Gitter muss. : „Lieber geh ich kaputt, bevor ich noch mal in die Kiste geh.“, so Rösner.
Und sich einschüchtern lässt Rösner schon gar nicht. „Der Hund mit seiner Härte, soll er doch mal die Härte machen“, bemerkt er zu der Polizei.: „Dann, eh, is hier alles zu Ende, für uns alle vier. Entweder kommen wir weg oder wir gehen kaputt.“
Rösner mimt den starken Mann, auch mit der Angst im Nacken, „Bedrohen lassen wir uns grundsätzlich nicht. Wenn einer bedroht, ne, dann sind wir das . . . Wir haben die Waffengewalt hier, und wir bestimmen über Leben und Tod.“
Nun, nachdem die Bemühungen um ein schnelles Ende gescheitert sind, setzt der beispiellose Rummel der Medien ein, der die Geiselnahme von Gladbeck zur öffentlichsten Gewalttat in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik macht.
Das Telefon in der Bank steht nicht mehr still. Die Polizei hat die Leitung nicht gekappt, weil sie hofft, dass sich über Telefon eventuell Komplizen melden. „Mein Gott, man kann Sie einfach anrufen, das ist unglaublich“, staunt ein Redakteur des „Hamburger Abendblatts“, als tatsächlich die Geisel Reinhold Alles den Hörer abnimmt.
Aus Stuttgart klingelt „Radio Media“ wegen eines Exklusiv-Interviews mit den Geiselnehmern an. Aus Würzburg meldet sich „Radio Gong“ und will mit den Opfern sprechen. Aus West-Berlin hakt der Privatsender „Radio 100,6“ nach. Mehrfach erkundigen sich Redakteure detailliert nach den Täterforderungen.
Hier wird bereits der Boden für das Presse geile Auftreten vorbereitet. Man gibt Rösner und Degowski Gelegenheit, Drohungen gegen die Polizei auszustoßen.
Rösner nutzt die Informationssucht, um Druck auf die Einsatzkräfte auszuüben. Um seine hochgradige Gefährlichkeit unter Beweis zu stellen, schwadroniert Rösner etwa gegenüber dem damaligen Chefreporter der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, Hans-Jürgen Pöschke, im dicksten Kohlenpott-Platt: „Wir haben zwei dicke Pusten im Moment in der Hand und wenn da irgendwat unternommen wird, wat mich in Gefahr bringt und meinen Kumpel, dann is vorbei, ne, dann klink ich aus, dann gibt dann oben ein Peng inne Birne, und dann wern wir wohl alle sterben.“
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