Seit jeher hatte sie Menschen helfen wollen – seit jeher hatten Menschen sie deshalb ausgenutzt.
Würde sie niemals daraus lernen? War es unmöglich, diesen Reflex auszuschalten?
Widerwillig schüttelte Lavanda den Kopf. »Tut mir leid.«
Ihr verfluchtes schlechtes Gewissen knotete ihr den Magen zusammen. Und des Typs wütendes wie flehendes Mienenspiel? Dieses war nicht eben unterstützend dabei, ihr eigenes Gefühlstohuwabohu zu bändigen.
Verdammte Scheiße!
Was wollte alle Welt eigentlich von ihr? Andauernd wurde sie um Hilfe gebeten! Und wer half ihr? Niemand! Kein verschissener Mensch!
»Es ist ein Notfall«, erwiderte er drängend, frustriert … restlos verzweifelt. »Normalerweise bitte ich nicht um einen Gratisparkplatz. Allerdings sind sämtliche kostenlose Abstellplätze belegt, und ich habe nicht genügend Kleingeld dabei, um ein Ticket zu ziehen. Hätte ich das Geld, würde ich nicht hier stehen und wie ein Bittsteller auf den Knien rumrutschen. Ich habe einen dringenden Termin um halb zwei in der Richtstraße. Ich schaffe es nicht mehr, falls ich nicht sofort losgehe.«
Lavanda blickte zur billigen Plastikuhr auf der von ihr rechts gelegenen dünnen Ytong-Mauer.
Es war fünfzehn Minuten nach eins.
Das schaffte er nie.
Die Richtstraße lag Minimum dreißig Gehminuten von der Druckerei entfernt.
Da sah sie bloß eine Möglichkeit …
Sie drehte sich um und schritt zurück zu ihrem Arbeitsplatz, an dessen linken Seite ein unauffälliger dunkelroter Kunststoffstuhl stand. Auf diesem verfrachtete Lavanda jeden Morgen ihre Handtasche. Ebendiese Handtasche war ihr Ziel. Lavanda öffnete sie, suchte etwas darin, und zog zwei Zwei-Euro-Münzen hervor, welche sie angesichts eigener Kleingeldnot stets als Reserve bei sich führte.
Sie trat zu dem Attraktivling und reichte ihm die Münzen. »Von uns aus zu Fuß bis zur Richtstraße? Sie würden niemals zeitig ankommen. Hier. Parken Sie in der groß angelegten Tiefgarage in der Anderluhstraße. Dann schaffen Sie es möglicherweise.«
Die Richtstraße zog sich durch die halbe nordseitig gelegene Innenstadt – was bedeutete, dass es sich vermutlich um einen Termin bei Gericht handelte. Nervosität wie Redefreude seinerseits sprachen dafür. Sein elegantes Äußeres sowie Mimik und Gestik, welche eher Ruhe und Zartheit ausstrahlten, tendierten dagegen auf eine verschlossene, wortkarge Person, was wiederum auf enormen Druck rückschloss – etwas, das Menschen zumeist durch Anklagen, Trennungen oder Testamentseröffnungen erfuhren.
Verwirrt blickte Letztgenannter auf das schimmernde Kleingeld. Er wirkte wie in Trance. Eine weitere unpässliche Reaktion für einen Mann seines Kalibers.
»Hier, nehmen Sie«, befahl sie drängender. »Ansonsten kommen Sie ernsthaft zu spät.«
Sein gedankenferner Augenausdruck verschwand, und an seine Stelle trat diese Lavanda aufwühlende verruchte Intensität. Kein Beäugen … ein Erforschen. Ein in sie Eindringen und sie restlos Vereinnahmen.
»Verzeihen Sie die Frage … weshalb tun Sie das?«
Sie hielt sich davon ab, ihre hochkletternde Unsicherheit durch ein peinliches Räuspern in die Schranken zu weisen und sich dadurch erst recht lächerlich zu machen. Stattdessen atmete sie einmal tief durch, verteufelte sich tausendmal im Geiste für ihre grenzdebilen und klischeehaften gefühlsmäßigen Reaktionen und begann mit ihrer hoffentlich halbwegs verständlichen und vernünftig anmutenden Erklärung.
Sie berichtete über die widerrechtlich abgestellten Kraftwagen, die abgemeldeten Fahrzeuge, die von der Druckerei beglichenen Abschleppkosten, die Dauerparker – und das vorprogrammierte Gejammer seitens ihres Chefs, sollte sie diesem von des Attraktivlings Notsituation und der daraus resultierten Parkerlaubnis unterrichten müssen.
»Glauben Sie mir«, brachte sie ihren Vortrag zu einem erbärmlichen Ende. »Dieses Gezeter will ich mir nicht mehr antun. Besonders nicht für jemanden, welcher eine einfache Parkgelegenheit braucht und den ich niemals mehr in meinem Leben wiedersehen werde. Verstehen Sie?«
Weshalb irgendjemanden noch mit Samthandschuhen anfassen? In ihrem Fall war dies nicht eben oft geschehen. Eher noch bewusst getreten worden war sie. Neidzerfressene Personen liebten es, durch kränkende Meldungen andere zu verletzen, zu unterdrücken, zu denunzieren.
Eine ihr Gänsehaut bescherende Erkenntnis blitzte in des schönen Mannes Antlitz auf und half ihr, die entsetzlichen Eindrücke der Vergangenheit und Gegenwart zur Seite zu drängen und sich die Frage zu stellen, was genau in dessen hübschem Köpfchen vorging.
»Vielen Dank.« Zögerlich, ja nahezu andächtig, jedoch zu keiner Zeit unterwürfig nahm er die Münzen an sich. »Sobald es mir möglich ist, gebe ich Ihnen das Geld zurück. Versprochen.«
Stolz ohne Überheblichkeit. Dankbarkeit ohne Falschheit. Verzweiflung ohne brachialen Hass.
Im Gegensatz zu ihr hatte dieser Mann sich noch ein Mindestmaß an Menschlichkeit behalten können …
»Ist schon in Ordnung«, meinte sie salopp. Es gelang ihr partout nicht, ein schmales Lächeln zu unterbinden, wofür sie sich wesentlich mehr hasste. »Aber jetzt gehen Sie lieber, ansonsten kommen Sie wirklich zu spät.«
»Ja, vielen Dank.« Seine Nervosität fachte hoch. Flott drehte er sich um, hechtete los –
Und wäre beinahe in Lavandas Chef gelaufen.
Der Schönling presste ein überraschtes und dadurch mindestens eine Oktave höheres »Verzeihung« hervor.
Lavanda musste sich eingestehen, seine wohlklingende Stimmlage hörte sich selbst in dieser witzigen Situation toll an.
»Nicht so eilig, junger Mann«, intonierte ihr großgewachsener Chef, dessen kecker Kurzhaarschnitt sich seit drei Jahren gänzlich silbern präsentierte. »Ansonsten könnten Sie das Glück Ihres Lebens übersehen.«
Innerlich schnitt sie eine Grimasse.
Es war typisch. Nicht ein einziges Mal konnte sich dieser neunmalkluge Mensch seine Pseudo-Weisheits-Sprüche verkneifen.
Bemerkte dieser Depp nicht, dass solche Äußerungen zumeist nervten und manch eine Person überdies verletzten?
Wie sie selbst? Oder womöglich sogar den Attraktivling?
Herr Huber wusste nichts über das Schicksal seines Gegenübers, dementsprechend zurückhaltend sollte er – und die restliche rotzfreche, hinterfotzige Gesellschaft – sich geben!
»Mir kann Derartiges nie passieren«, erwiderte der Parkplatzsuchende sogleich. Eine beträchtliche Ladung Sarkasmus gepaart mit Verbitterung schwang in seinem Tonfall mit. »Glück existiert nicht. Genauso wenig wie Götter oder wahre Liebe.«
Irgendwie konnte sich Lavanda des Eindrucks nicht erwehren, dass Feschak diese Äußerung gar nicht hatte tätigen wollen – was sie tief in ihrem Innersten berührte.
Die hochkriechende Scham, die Wut auf sich selbst, die Versagensgefühle - sie kannte den Emotionstsunami zu gut, der in solchen Momenten losgetreten wurde.
Obwohl Feschak ihr allmählich leidzutun begann, war sie dankbar für diesen ungewollten Ausrutscher seinerseits, brachte er doch tiefer liegende Auffassungen zutage und befeuerten diese Vermutungen. Vermutungen über unschöne Lebenserfahrungen, Schicksalsschläge oder einschneidende Erlebnisse.
»Na, na. Nicht so negativ«, gab Herr Huber grinsend und auf diese ihr allzu bekannte überheblich anhörende Weise zurück. »Das Leben ist schwer genug, da muss man es sich nicht noch selbst schwerer machen.«
Aber ansonsten ging es diesem Tölpel gut, oder?
Ernsthaft!
Manchmal musste Lavanda sich wirklich fragen, ob der Großteil der Bevölkerung das Glück gepachtet hatte. Wie sonst waren derartige hirnverbrannte Meldungen zu erklären?
»Man braucht es sich gar nicht selbst schwerzumachen«, entgegnete Attraktivling trocken. »Dafür gibt es Mitmenschen. Diese schaffen solche Kunststücke mit Leichtigkeit. Ein gutes Beispiel stellen Freunde oder Familienmitglieder dar: Man glaubt, man könne sich vertrauen und gegenseitig helfen. Stattdessen sitzen die lieben Bekannten dann in der Hängematte, währenddessen du ihnen den verdammten Rasen mähst.«
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