Etwas – da es ihr partout nicht gelingen wollte, diesen verdorbenen Geschmack der Nutzlosigkeit abzuschütteln oder überhaupt einen rechten Sinn in ihrem Leben zu entdecken.
Es wurde ihr zu viel.
Zu viel Hektik, zu viel Lärm, zu viel Verantwortung, zu viel Verpflichtung, zu viel Arbeit, zu viel Einsamkeit.
Wozu lebte sie?
Um zu arbeiten? Zu lernen? Schmerzen zu erdulden? Missverstanden und eiskalt ignoriert zu werden, sich blöde Sprüche anzuhören –
Ein das Büro betretender Kunde schob ihren inneren Disput zur Seite.
Es handelte sich um einen ausgesprochen attraktiven Kerl ihres Alter.
Ein wenig abgehetzt und ruhelos blickte er sich um.
Anscheinend hatte er sie noch nicht bemerkt.
Kein Wunder, bei den vielen verstaubten Geräten um sie herum und den sich hochtürmenden Papierstapeln …
Heute zumindest war ihr dieser chaotische und zumeist nervige Umstand zu etwas nütze. Dadurch war es ihr nämlich möglich, diesen Feschak etwas länger und genauer zu betrachten.
Was ihr zuallererst auffiel, war seine himmlische Frisur.
Zugegeben, ehe sie einem Kerl auf den Hintern blickte – was sie ohnehin nur äußerst selten tat –, waren ihr Gesicht und Haarpracht wichtiger. Was half ein knackiger Po, wenn die Vorderseite nicht ansprach?
Nun, in diesem Fall brachte des Mannes welliger bis gelockter, brünetter Undercut ihr Herz ungewollt auf Trab – wenn man den Schnitt derart bezeichnen durfte, fiel das Deckhaar doch relativ lang und füllig aus und die üblicherweise kürzer geschnittenen Stellen waren kaum zu erkennen.
Lag es an den angedeuteten Locken? Nach genauerem Betrachten schien der Stufenschnitt eigentlich gar nicht vorhanden zu sein. Das seitliche weniger dicht ausfallende Haar erweckte einen solchen jugendlich-frischen Eindruck des Friseurhandwerks. Stattdessen hatte der Kunde die für einen Mann mittellange Haarpracht offenbar bloß mit den Händen und minimalem Einsatz von Gel locker nach hinten gestreift.
Das Ergebnis: Eine luftige, schnell zu bewerkstelligende Frisur, welche diesem Kerl eine nahezu verboten sexy-verruchte Aura verpasste und Frauen höchstwahrscheinlich anzog wie … Fliegen vergammeltes Hühnerfleisch.
Sie fragte sich, wie sein Haar in der Sonne anmuten mochte. Wahrscheinlich schimmerte es bronzen- und kupferfarben – ähnlich wie das ihre. Ihr Deckhaar zeigte sich im strahlenden Licht golden bis Dunkelblond, die unteren Schichten warteten mit einem Kupferstich und Bronzentönen auf. Fatalerweise hatte sie im Laufe der letzten zehn Jahre beinahe zwei Drittel ihre Fülle einbüßen müssen.
Er hingegen zeigte exakt das Haarvolumen, welches sie einst besessen hatte: nicht zu füllig – wie ein dunkler Typ –, dafür reichlich feines Haar, welches sich fröhlich-verspielt manchmal mehr und manchmal weniger lockte.
Sie selbst besaß ebenfalls leicht lockiges Haar. Einige Jahre lang waren diese sogar sehr ausgeprägt, an anderen wiederum gänzlich verschwunden gewesen.
Einen ähnlichen Umstand vermutete sie in seinem Fall. Und erheblich mehr fragte sie sich, weshalb sie sich derart viele Gedanken um die Mähne eines wildfremden Mannes machte …
Offenbar haderte sie mit ihrem sich seit fünf Jahren schleichend ergrauenden und schütter werdenden Kopfschmuck.
Es waren vereinzelte schneeweiße Haare, welche sich da vermehrten. Allerdings wollte Lavanda diese nicht färben. Grundsätzlich wäre es ihr sogar recht zu ergrauen. Schneeweißes, langes Haar hatte seinen Reiz. In ihrem Fall jedoch hing dieser unausweichliche Alterungsprozess mit einer anderen, schmerzhaften Tatsache zusammen: zu ergrauen – und nach wie vor ungeküsst zu sein.
Des Öfteren hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich einen Escortservice zu bestellen – einen halbwegs ansehnlichen Typ mit Erfahrung und Einfühlungsvermögen, welcher mit ihr schlief und sie danach noch etwas in den Armen hielt … ihr für wenige Stunden ihren Freund vorspielte.
Sogar Mehrkosten würde sie dafür in Kauf nehmen.
Dann, wenn der Mann seinen Job getan hätte, würde sie sich in die Badewanne legen und sich die Pulsadern aufschneiden.
Sie verdrängte die Traurigkeit, verdrängte die Übelkeit, verdrängte die Tränen und konzentrierte sich auf das Jetzt.
»Guten Tag.«
Des Traumhaar-Verschnitt-Kerls Haupt schnellte in ihre Richtung – und ein heißkalter, beinahe nicht wahrnehmbarer Schauer huschte über Lavandas Haut.
Seine dunkelblauen Augen – waren sie dies eigentlich? Mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen – muteten an, ihr bis ins Herz und in ihre schmerzende Seele zu blicken.
Einbildung, dachte sie über sich selbst erbost, alsbald sie bemerkte, wie dieser Beau ihr sympathisch wurde.
Das hatten wir bereits dreimal, ein viertes Mal können wir uns getrost sparen.
Sympathien zu erwecken, damit man sie ausnahm, damit man sie um den Finger wickelte, damit man sie letzten Endes wortlos stehenließ – sogar als Kunde!
Ihre Wut wuchs an, ihre zuvor aufkeimende minimale Positivität erstarb abrupt.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Sie erhob sich, um im Zweifelsfall ohne Zeitverlust die richtige Bestellung herauszusuchen oder USB-Sticks oder andere Datenträger entgegenzunehmen.
»Verzeihung, wäre es –«
Weshalb hielt der Mann inne? Sie wusste es nicht. Und es interessierte sie nicht weiter. Sie wollte diesen Kerl bloß schnellstens loswerden. Vor allem, alsbald sie seines Outfits gewahr wurde.
Eine schwarze wertig aussehende Lederjacke ohne verspielten Firlefanz wie Buttons oder übertrieben schimmernde Druckknöpfe, darunter ein versnobtes weißes Hemd mit ausladendem verwegenem Kragen kombiniert mit einer eng geschnittenen schwarzen Jeans und schwarzen Schuhen.
Ergo: ein typischer Weiberaufreißer auf der Suche nach einem schnellen Fick. Jemand, welcher sich niemals für sie interessieren und wesentlich weniger anbaggern würde.
Jemand, welcher es nicht wert war, sympathisch gefunden zu werden.
Ein Mann – überflüssig und lästig wie Warzen.
»Holen Sie einen Druckauftrag ab?«
»Nein, ich wollte lediglich darum bitten, ob ich für eine halbe Stunde Ihren Parkplatz benützen dürfte.«
Nicht noch einer!
Seit Jahren baten Personen um kurzzeitiges Parken. Dabei besaß die Firma bloß vier Stellplätze, dementsprechend eng konnte es an geschäftigen Tagen werden.
Dennoch verstand Lavanda die niemals enden wollende Fragerei.
In Klagenfurt waren Parkplätze Mangelware. Und die neu gestalteten Kurzparkzonen? Diese hatten zwar das durch unzählige Pendler hervorgerufene Parkchaos eingedämmt, dafür musste nun weitaus tiefer in die Tasche gegriffen werden, um Erledigungen in der Innenstadt und im inneren Gürtel machen zu dürfen. Zudem war die Parkzeit auf vier Stunden begrenzt worden. Für eine Hauptstadt ein unmöglicher Zustand.
Und ebenso für sie! Denn nahezu jeden Tag musste sie fragenden Personen eine Absage erteilen. Manch einer von ihnen wurde dann ausfällig, andere straften sie mit angewiderten Blicken.
Lavanda gab dennoch nie nach. Das Gejammere Ihres Chefs, falls sie jemandem eine Parkerlaubnis erteilte, wog zu schwer und belastete tausendmal mehr als das schlechte Gewissen, einem Menschen in Not nicht geholfen zu haben.
»Es tut mir leid«, versetzte sie. »Das geht nicht.«
Überraschende ehrlich anmutende Hilflosigkeit legte sich über des Schnösels Miene. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine – was auch sonst? – goldene dekadente Armbanduhr, und eine regelrechte Panik vermengt mit Aggression nahm seinen ebenmäßigen Gesichtskonturen, allen voran den sanft geschwungenen Augenbrauen, ihre Grazie.
»Es wäre lediglich für eine halbe Stunde. Ist es nicht irgendwie möglich?«
Der verstörte Ausdruck war nicht gespielt. Dieser Mann stand mächtig unter Zugzwang. Fatalerweise konnte sie ihm nicht aushelfen – obwohl sie es gerne getan hätte. Nicht aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes, nicht aufgrund dieser unsäglichen Sympathieentwicklung, sondern einzig ihrer neurotischen Hilfsbereitschaft wegen.
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