Aber was will er jetzt damit?! Licht ins Dunkle bringen! Es hängt keine Lampe an der Decke, er will also den Raum erhellen. Aber eine Kerze steht auch nirgendwo.
Er macht zwei lange Schritte und steht vor dem Bett, schaut über seine Schulter zu mir rüber, so als stelle er sicher, dass ich zuschaue bei dem was er tut.
Er gibt die Schachtel an die Frau im Bett, deren Gesichtsausdruck lange nicht mehr neutral ist. Seit sie mich ruhig gestellt hat, wirkt sie angespannt. Ihre Spannung droht fast zu zerreißen, als sie die Zündhölzer in den Händen hält. Mit einer Bewegung schiebt sie die Lade aus der Hülle und verteilt den Inhalt auf ihrer Brust.
Ohne lange zu zögern, zieht sie mehrere Hölzer nacheinander an der Zündfläche entlang. Keines geht an, keines verhält sich so, wie man es von ihm erwartet hätte.
Zusehens fängt die Frau an zu zittern und zu schwitzen. Sie wird noch unruhiger, zappelt umher, während sie die Hölzer entlang streicht und als das Letzte nach mehreren kläglichen Versuchen unter einer kleinen Rauchwolke bricht, bricht ihr Frust in einem Wutanfall aus. Sie tobt im Bett umher, beißt ins Laken, schlägt ihre Fäuste gegen die Wand und schreit.
Nein. Moment.
Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Ohren. Ich höre nichts. Sie tobt, aber ich höre keinen Mucks.
Der alte Mann dreht sich vom Bett weg und muss mich wohl sofort verstanden haben: „Ganz ruhig, unsere Frau Blattzweig hier ist eben etwas durcheinander.“
Dem Himmel sei Dank, ich bin nicht taub.
„Was meinen Sie mit durcheinander? Ist sie stumm?“
„Nun, wissen Sie, sie war einst eine angesehene Online Journalistin...
Sie schrieb Kolumnen für eine große Zeitung, Berichte für viele regionale Blätter und landete ihren größten finanziellen Erfolg mit einem Skandal über einen bekannten Politiker, in einem Schmierblatt, dessen Verwaltungsgebäude vor einigen Jahren Opfer eines politischen Anschlags wurde und nicht mehr länger existiert.
Von ihrem Honorar für diesen bahn- und intimitätsbrechenden Bericht, flog sie mit ihrem alten Vater an sein Wunschziel auf dieser Erde: Alaska.
Sie versuchte den Vater zuerst noch zu überzeugen, doch in einem Hotel zu übernachten, aber er hatte sich diesen Trip sein Leben lang erträumt und genauestens ausgemalt.
So mieteten sie also eine kleine Holzhütte am Knie eines Berges von einem Einwohner der nächstgelegenen Stadt.
Gemütlich an einem See gelegen, um sie herum nur Felsen und Schnee.
In der dritten Nacht gab es ein Erdbeben.
Sie wurden von einem Schneerutsch überrollt.
Eingesperrt in der Hütte und ohne Handyempfang, versuchten sie den Kamin wieder frei und an zu bekommen, denn der Schnee hatte sich durch den Schornstein auf die Feuerstelle verschlagen und sie erlischt. Es wurde kälter und kälter in der Hütte, sie zogen alle warmen Sachen an, die sie fanden. Schließlich war die Feuerstelle wieder frei. Unsere Frau Blattzweig nahm also die übrig gebliebenen Streichhölzer und versuchte das Feuer wieder zu entfachen, aber keine Chance, jedes Holz brach ab oder wollte einfach nicht zünden. Sie mussten sich also zusammenlegen und sich gegenseitig warm halten, aber ihr Vater schaffte es nicht. Er erfror.
Eine bis zwei Stunden später fand man sie unter dem Schnee, sie hatte ihren Vater immer noch in die Arme geschlossen und bewegte sich keinen Zentimeter von ihm.“
„Sie grausames Monster! Und Sie geben ihr immer wieder defekte Streichhölzer!“
Ich will meiner Wut Ausdruck verleihen, schreie und will den alten Mann schlagen. Aber ich kann mich nicht bewegen. „Was haben Sie mit uns gemacht?! Wieso kann ich mich nicht bewegen, aber schreien und sie kann sich bewegen, aber nicht schreien?!“
„Bleiben Sie ruhig, ich werde Sie gleich erlösen.“
„Nein! Sie werden es jetzt tun, ich möchte Ihnen weh tun!“
„Wenn dem so ist, werde ich Sie noch etwas hier stehen lassen. Bis morgen.“
Er dreht sich um und geht in Richtung Tür.
Er stoppt und greift nach etwas auf dem Boden. Da liegt noch ein Streichholz. Unbenutzt.
Die Hülle der Hölzer hat Frau Blattzweig vor Wut durch den Raum geworfen. Er hebt sie auch auf und zündet mit einem Gesichtsausdruck der sagt: „Geht doch.“ und einem leichten Kopfschütteln das Holz.
Ich blicke zu ihr herüber, aber sie ist schon vor Erschöpfung eingeschlafen. Ansonsten wäre sie wohl vollends ausgerastet. Der Mann schließt die Tür.
Langsame, halblaute, elektronische Musik.
Gedimmtes Licht; Puls: 120 Schläge pro Minute - Tendenz steigend.
Sie mag es, wenn ich sie drücke.
Sie mag es sehr wenn ich sie drücke, ziehe, ihr aus Jux widerspreche,
nur um im nächsten Moment alles zuzulassen.
Wir haben beide etwas gleichzeitig auszuleben und zu verstecken.
Mein Geheimnis kennt sie, ihres hat sie mir nicht gesagt,
es ist ihr aber wie mit dickem Edding
auf die Lider uns ins Gesicht geschrieben:
Ich bin der perfekte Übergangsmensch,
eine Zwischenlösung die nie die Wahrheit
aber zumindest den Anschein ihrer darstellt,
wenn man es nur sehen will.
Und ihr Wille ist alles was sie hat.
Die Ehrlichkeits- und Realitätsfesseln der Sonne,
haben wir mit ihrem Untergehen abgelegt
und flüstern uns nun schöne, zweckgebundene Liebeslügen zu.
Ich weiß es, bin mir dessen bewusst,
dass ich mich mit meinen Worten und Taten am Meisten betrüge,
aber ist sie sich dieser Scheinheiligkeit auch bewusst?
So wache ich auf.
Ich liege.
Es ist dunkel, aber meine Augen stört das nicht.
Im Bett gegenüber liegt die stille Frau.
Mein Kopf liegt zur linken Seite geneigt auf dem Kissen. Ich auf dem Rücken, in der gemütlichsten Position, unter der angenehmsten Decke die es gibt.
Sie starrt mir ängstlich in die Augen, wie ein Kind, dass man zum ersten Mal allein unter Fremden lässt. Sie zittert.
Mir fällt auf, dass es sehr kalt in unserem Zimmer ist und ihre Decke auf dem Boden liegt.
Als ich abwechselnd sie und ihre Decke anschaue, mit fragendem Blick, der, wie ich hoffe, ausdrückt: "Soll ich Ihnen helfen sich wieder zuzudecken?", hebt sie ihre beiden zittrigen Hände von der Brust und deutet ein STOPP.
Ich zögere kurz, will ihr aber dann doch Gutes tun, auch wenn es gegen ihren Willen ist.
Ich kann mich nicht bewegen.
Erst jetzt fällt mir die Schwere auf.
Die Leichtigkeit, wohlige Wärme und Versunkenheit, die mich eben noch so behütet hat aufwachen lassen, fühlt sich nun an, als stecke ich in fast ausgekühltem Grießbrei, bis zum Hals.
Es ist warm, aber es hält mich fest, das Federbett drückt mir auf die Lunge und erschwert mir das Atmen. Ich versuche mich zu beruhigen und spüre einzeln in verschiedene Teile meines Körpers. Ich habe Muskelkater. Überall. Als wäre ich einen Marathon gerannt. Und anschließend noch drei weitere. Ich schaue zu Frau Blattzweig herüber und finde Ruhe in ihren Augen.
Sie zittert nicht mehr. Ihr Gesicht wird zu dem einer besorgten und wohlwollenden Mutter. Sie streckt sich, greift nach ihrer Decke und deckt sich wieder zu, besser als ich sie je hätte betten können. Eingekuschelt sieht sie nun wieder zu mir, noch sanftmütiger als zuvor, legt einen Finger auf ihre leicht geöffneten Lippen und schließt langsam ihre Augen, ohne den Blickkontakt zu mir zu verlieren. Ich komme wieder zur Ruhe, die schwere Decke wird wärmend, die kalte Luft an meinem Gesicht angenehm kühl und das Bett eine Herberge.
Ich erinnere mich an den Tee der beiden Herren und mir wird flau nur beim Gedanken daran. Er muss vergiftet gewesen sein. Das ist es. Ich wurde vergiftet.
Was bleibt mir nun? Gefangen in Gemütlichkeit.
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