Zurück in den eigentlichen Bücherraum gedrängt scheint mir alles plötzlich so unfreundlich. Das urige, heimatliche Gefühl dieses kleinen Raumes war verschwunden. Das bisschen was mal da war.
Übrig geblieben ist das Gefühl von Unheil in mir und eine erschreckende, lauernde Atmosphäre.
Der Grund dafür, neben den seltsamen Geschehnissen in diesen Wänden, ist unter anderem die nicht dämmernde, sondern in ihrer vollen Pracht scheinende Nacht. War ich denn wirklich so lange mit meinen Gedanken beschäftigt? Wie lange hat das Mädchen mir etwas erzählt?
Der alte Holzboden knarrt mit jedem Schritt den ich tue lauter.
Inzwischen sind beide Männer wieder anwesend. Sie haben Tee mitgebracht. Er wird mir angeboten, ich trinke.
Es ist eine Pfirsich-Schwarztee-Mischung. Ich habe ihn noch nie getrunken, aber der Geschmack erinnert mich an ein Kindheitserlebnis:
Ich war damals gerade sechs geworden, dass weiß ich noch so genau, weil mir meine liebe Großmutter seit meinem sechsten Geburtstag bis hin zu meinem achtzehnten immer eine Schachtel Pralinen schenkte. Es waren immer die gleichen.
Eine rechteckige, blaue Verpackung mit einer roten, breiten Schleife umbunden.
Wenn man die Verpackung öffnete, stach einem, sobald man den von der Luft gehaltenen Deckel vorsichtig abnahm, eine weiße, seidene Decke entgegen. Hauchdünn und duftend.
Unter der Decke war eine weiße Papierschicht und darunter endlich die Schokoladentrüffel, die mit Haselnusscreme gefüllten Waffeln, zwei Kokospralinen, an der rechten Seite eine Auswahl an Pralinen mit sämtlichen Nüssen, links das gesamte, wünschenswerte Nougatbuffet und in der Mitte eine einzige Rumpraline aus weißer Schokolade und dunkler Verzierung oben auf.
Insgesamt waren es 32 Pralinen.
Doch es gab Regeln. Dieses Geschenk war die Art meiner Großmutter mir das Genießen beizubringen. Ich durfte immer nur eine Praline am Tag essen.
Das sagt sich jetzt, da ich weiß wie es funktioniert so leicht, aber mit sechs Jahren hätte ich gerne mein heutiges Wissen besessen.
Von solchen Abreibungen auf den blanken Hosenboden kann ich heute nur noch träumen.
Als meiner Mutter damals auffiel, dass ich an einem Tag drei anstatt einer gegessen hatte, legte sie mich auf ihr schönes Sommer-Blumenkleid über die Knie und verpasste mir Schläge, die ihr wohl einst zustanden.
Wenn meine Großmutter mich sonst schon nichts gelehrt hatte, dann zumindest den Genuss und den Verzicht, mit meiner Mutter als ihrem Helfer.
Das Jahr in dem ich sechs wurde, war das einzige in dem ich Prügel bezog wegen Verstoß gegen die Regeln. Später stellte ich es geschickt an.
Mein Geburtstag lag und liegt immer noch im Dezember und die Neujahrsnacht war eine der wenigen Ausnahmen im Jahr, an denen es kleinen Kindern wie mir damals erlaubt war bis nach Mitternacht auf zu bleiben.
Ein jeder wahrer Genießer wie ich es war, kann sich schon längst denken, was mein Plan war.
Ich aß also um kurz vor Mitternacht eine und eine Minute später, als sich meine Familie in den Armen lag, um das neue Jahr zu feiern, die zweite Praline. Damit hatte ich keine Regel gebrochen und trotzdem mehr als sonst.
Meine Großmutter hätte mir sicherlich auch zu späteren Geburtstagen als dem achtzehnten weiterhin Pralinen geschenkt, aber kurz nach Neujahrsbeginn erlag sie ihrem Brustkrebs, wie er allen Frauen der Familie bisher früher oder später zuteil wurde. Ich hatte bis dorthin schon zehn der Pralinen gegessen, also waren noch zweiundzwanzig übrig und ich schwor mir von nun an mir jedes Jahr nur eine einzige zu gönnen. Sie waren so süß, dass ich mir um ihre Haltbarkeit keine Gedanken machen musste, sie würden, wenn sie müssten, meine Person selbst überleben und einem kleinen Kind noch den Genuss eintrichtern.
Sie würden also bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr anhalten.
Zurück aus meiner Erinnerung, in die sehr verwirrende Wirklichkeit geschmissen, versuche ich den Grund für mein Abschweifen wiederzufinden. Genau. Der Tee.
Ebenso wie die dünne Decke, unter der die Pralinen sanft gebettet waren roch, schmeckt der Tee den mir die beiden mir höchst suspekten, aber doch freundlichen Männer einschenkten.
Als kleinen Genuss zum Tee gibt es etwas Süßes. Der Mann mit der Brille und dem Bart hält mir eine große, weiße Porzellanschüssel vor und ich wusste, weil auch sie es so getan hatten, dass ich nur eine Kleinigkeit daraus entnehmen sollte, wenn ich mir einen peinlichen Moment ersparen will.
Schokotropfen, mit Schokolade umhüllte Kaffeebohnen, Blätterkrokant und anderes Gutes birgt das Innere der Schüssel, aber rasch entscheide ich mich für etwas in Silberpapier gepacktes. Ausgepackt und zerteilt mit meinen Zähnen, stelle ich fest, dass es eine Nougat Pistazien Praline ist. Sie ist gut und zerfließt mir auf der Zunge bis in die Wangen.
Dieses Geräusch, so grell und schrill, so durchdringend und drängelnd. Es erfüllt meine Brust mit einem Gefühl der unsicheren Reue und nagelt mir von innen, metallisch klingend, gegen die Schädeldecke.
Die beiden weisen mit Händen und Füßen an, dass ich mich erheben und ihnen in das linke, hintere Zimmer folgen soll.
Ich fühle mich plötzlich wie die Praline: Mein wunder Knackpunkt, der schon für alle deutlich sichtbar war, wird langsam von der fließenden Hülle befreit und attackierbar.
Es waren die kleinen Süßigkeiten und die süßen Kleinigkeiten die mich am Meisten interessierten, mir aber auch oft das Herz brachen. Warum sonst wäre mir die kleine Bücherei, umrandet von hohen Häusern und billigen Boutiquen aufgefallen?
In dieser, für mich inzwischen kitschig, romantischen Kleinstadt musste man zwar sehr geduldig sein, aber unmöglich war es nicht, ein wenig abnormale Besonderheit zu finden.
Ich erinnerte mich an den grünen Laden. Er hieß zwar: „Was ich mag, magst du vielleicht auch“, ich jedoch nannte ihn den grünen Laden, weil der Besitzer, wissentlich oder nicht, ...
in jeder Speise, in jedem Trank, auf jedem Tisch, auf jedem Schrank, auf den Tellern, Tassen, Schuhen, den Langspielplatten, Instrumenten oder Uhren, immer etwas Grünes hatte. Und sei es auch nur eine Feder, ein Faden, eine Frucht oder ein Fleck, etwas war immer grün. Manchmal glaubte ich, wenn ich umher stöberte, zwischen zufällig gewählten Verkaufsstücken, ihm auf den Leim gegangen zu sein. Dass dieser graue Pullover, den ich in der Hand hielt, nichts Grünes aufzuweisen schien. Doch als ich ihn siegessicher wieder zusammen legte, sprang mir die Innenseite des Kragenschildchens ins Auge. Grün.
Egal ob es eine Kunst, ein Spiel mit maximal einer Hand voll Detailverliebter oder der Tick des Verkäufers war, es war etwas abnormal Besonderes, dass bestimmt nicht jedem auffiel, wenn er den winzigen Laden betrat, falls man ihn in all dem Gewusel von Hektik überhaupt fand oder beachtete.
Es riecht überall nach Wald.
Als ich aus meinen Erinnerungen erwache, finde ich mich in einem kleinen Raum. Ich stehe mittendrin und auch außerhalb. Es ist das vermeintliche Krankenzimmer.
Die Bettlägerige starrt mich an ohne zu blinzeln. Ihr Gesicht ist deutlich zu erkennen, obwohl es nahezu gänzlich dunkel hier ist. Es ist ohne jegliche Mimik, frei von Ausdruck oder Beschwerden.
Sie schaut einfach nur.
Die beiden Alten sind nicht hier, sie müssen noch im Laden sein. Sicher sind sie im Laden. Ich bin es ja schließlich auch.
Ich bewege mich nicht, weil mir nicht danach ist. Stehe wie fest gekettet und erwidere den Blick der mir Unbekannten. Sie muss sich doch das Gleiche von mir denken: „Steht da einfach nur und tut nichts, schaut mich einfach nur an.“ Also spreche ich: „Weshalb liegen sie“, ich werde unterbrochen. Ihr Mund öffnet sich, aber ich verstehe kein Wort. Ich ziehe die Brauen zur Geste, dass ich nichts gehört habe. Sie nimmt den rechten Zeigefinger vor ihren Mund, befielt mir still zu sein und zieht die Decke zurecht. Die Türe öffnet sich und meine Augen schmerzen vom plötzlichen Licht. Einer der Männer steht im Rahmen, der ältere, und er hält einen Gegenstand in der linken Hand. Es sieht aus wie eine Streichholzschachtel.
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