Maxims Blick wanderte hinüber zu den blonden Zwillingen. Sie tuschelten nach Mr. Serras Worten kurz und Nellie erschien ihm ein wenig beunruhigt, aber verstehen konnte er nicht, was sie sagte.
„Hast du dir schon überlegt, welche Fächer du belegen willst?“, fragte Lilly ihn flüsternd und beugte sich ein Stück zu ihm, um auf seine Liste zu lugen. „Die Auswahl ist so groß, ich kann mich kaum entscheiden.“
Max kannte das Entscheidungsproblem zu gut. Am liebsten würde er überall ein Kreuzchen setzen, um nichts von den vielen Aktivitäten zu verpassen. Lediglich die Sportkurse würde er auslassen, da ihm der Schulsport ausreichte.
„Es empfiehlt sich zumindest ein Wahlfach zu belegen, aber letztlich liegt die Entscheidung, wie gut ihr euch einbringen wollt, allein bei euch. Für diejenigen, die am Schuljahresende erfolgreich an einem oder mehreren Wahlfächern teilgenommen haben, gibt es selbstverständlich eine Zeugnisbemerkung und auf Wunsch auch einen Empfehlungstext“, äußerte sich Mr. Serra zu der Wahl der Fächer.
Maxim richtete seine Augen wieder nach vorne und wog ab, in welchen Kursen er mehr Spaß und Eifer entwickeln würde.
„Und wenn man sich nicht entscheiden kann?“, murmelte er, stützte seinen Kopf geradezu verzweifelt auf seine Hand.
Sein Dilemma war ihm ungewollt lauter als geplant über die Lippen gekommen. Daraufhin spürte er mehrere Blicke auf sich und richtete ein verlegenes „Entschuldigung“ an die Anwesenden. Seinen Kopf hat er einsichtig geduckt.
Mr. Serra nahm die unbewusste Störung locker. „Für die Unentschlossenen unter euch ist es möglich, ein oder zwei Wahlfächer erst zu testen, bevor ihr euch fest in den Kurs einschreibt. Gebt den Zettel mit eurer Auswahl bis spätestens neunzehn Uhr im Sekretariat ab.“
Bedeutend gelassener betrachtete Max die Auswahlmöglichkeit erneut. Die Kugelschreiberspitze übers Papier führend, vertraute er seinem ersten Gefühl und setzte einen Haken bei Theater. Lilly grinste ihn an und tat es ihm gleich.
Schlafwandeln
05.09.2018 – später Nachmittag
Morrison Memorial, Waldstück
„Ich brauche eine Pause.“
Mit einem leisen Seufzen löste Nellie sich von der Hand ihrer Schwester. Einen Moment lang sah sie Nancy dabei zu, wie sie über das Eis glitt, als würde sie schweben. Nellie hingegen wandte sich um und schaffte es nur auf wackeligen Kufen das sichere Ufer zu erreichen. Eislaufen war eines von vielen Dingen, die sie trotz Nancys beständiger Hilfe nicht gut konnte. Dennoch, so fand sie, war es kennzeichnend für ihr ganzes Leben: Es bewies, dass, egal auf welchem Untergrund sie sich bewegte, sie keinen festen Halt fand und immer auf Unterstützung angewiesen war. Sei es die vertraute Hand, die sie gekonnt über das Eis führte, oder jemand, der an ihrer Stelle sprach, weil sie vor anderen kein Wort herausbrachte.
Diese aufdringlichen negativen Gedanken schafften es jedoch nicht, ihr die gute Laune zu verderben. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie sich auf den Waldboden plumpsen ließ und zum bewölkten Himmel hinaufsah. Nicht nur das neue Leben im Internat war eine Umstellung für die Zwillingsmädchen, auch das Wetter war anders, als sie es gewohnt waren. Nellie vermisste die Sonne und das wärmere Wetter nicht, dagegen taten die Wolken ihrer Schwester gut, die nicht mehr aufpassen musste, sich den durchdringenden Sonnenstrahlen zu entziehen.
Die Jüngere wunderte sich noch immer, wie unterschiedlich sich ihre Verwandlungen zu Andersartigen zeigten. Während das feinere Gehör der Parcatis die einzige physische Veränderung an ihr war, wurde Nancys kompletter Körper einbezogen. Nicht nur, dass sie ihre eigene Körpertemperatur mithilfe ihrer Eiskräfte senken musste, um sich wohl zu fühlen, ihre Haut reagierte hoch allergisch auf Hitze und UV-Strahlen.
Nellie erinnerte sich noch gut an ihren ersten Spaziergang, nachdem die Verwandlung bei Nancy eingesetzt hatte. Es war Hochsommer gewesen, wolkenlos. Innerhalb weniger Minuten war ihre Haut von Pusteln und Entzündungen übersät gewesen, die ihr starke Schmerzen verursachten.
Trotz der Nachteile, die ihre gewonnene Kraft mit sich brachte, würde Nancy sie nicht mehr missen wollen. Nellie bewunderte die beinahe natürliche Begabung ihrer Schwester mit dem Unbekannten umzugehen. Schon früh schien ihr Körper die magische Kälte als Teil von sich akzeptiert zu haben. Die Eisbeschwörungen waren so elegant wie eindrucksvoll, dass Nellie sich noch immer nicht daran sattsehen konnte. Auch jetzt bewegte Nancy sich so geschmeidig und flink über den von ihr gefrorenen Weiher, dass man meinen könnte, sie hätte nie etwas anderes getan.
„Machst du dich kälter, seit wir hier sind?”, fragte Nellie neugierig nach, bekam jedoch einen verständnislosen Blick zurück. „Nein, ich mache es wie immer.”
„Dann kommt es mir bestimmt nur wegen des Wetters so vor”, tat sie die bemerkte Veränderung als Einbildung ab.
Vielleicht machte der Wetterwechsel ihr doch mehr zu schaffen, als sie erwartet hatte. Nachdem sie die Wärme ihrer Heimat gewohnt war, reagierte ihr Körper womöglich empfindlicher auf die niedrigen Temperaturen ihrer Schwester und der Luft. Aber daran würde sie sich ebenfalls gewöhnen.
„Wir haben wirklich Glück mit diesem Wald.“ Das zarte Lächeln auf den Zügen der Älteren, die eine Pirouette drehte, diente als Zustimmung.
Die Parcatis löste die Schleifen an ihren Schlittschuhen, um sie sich abzustreifen und mit ihren nackten Sohlen den Kontakt zum Boden zu suchen. Ihre Zehen gruben sich leicht in die feuchte Erde und ignorierten die Zweige und Steinchen, die sich ihr zu widersetzen versuchten. Es war wundervoll ruhig hier. Friedlich. Harmonisch. Zwar hörte sie deutlich die raschelnden Blätter, den pfeifenden Wind und die wilden Tiere, doch es waren keine Menschen hier. Keine Überforderung für das unsichere Mädchen. Keine fremden Gefühle, die sich ihr aufdrängen wollten.
„Hättest du je gedacht, so vielen Andersartigen auf einmal zu begegnen?“ Nellie zog nachdenklich die Beine an ihren Körper.
Sie hatte bereits die Vermutung gehabt, dass die Zwillinge nicht die einzigen existierenden Andersartigen sein konnten, aber vorher waren sie nie welchen begegnet. Möglicherweise gab es an ihrer alten Schule welche, die durch die Masse an Schülern untergegangen waren. An der Morrison Memorial School hingegen konnte Nellie deutlich spüren, dass es einige Impater geben musste. Auch Nancy bestätigte, dass sie bereits dem einen oder anderen Gegenstück ihrer Gesinnung auf den Fluren begegnet war. Von der einst isolierten Welt, in der sie gelebt hatten, hatten sie eine neue, offene betreten, die Nellie womöglich die unzähligen Fragen beantworten konnte, die sie seit vielen Jahren begleiteten.
Nancy kam schlitternd zum Stillstand und dachte über die Frage nach, sie schien inmitten der dichten Bäume nach der Antwort zu suchen. „Vielleicht hattest du recht damit, dass dieser Ort Andersartige anzieht“, antwortete sie schließlich und stieß sich mit einem Fuß ab, um ruhige Bahnen zu ziehen.
Noch immer war die Jüngere von dieser Theorie überzeugt, konnte sich jedoch nicht erklären, woher diese Anziehung stammte. Schon als sie einen Artikel über das renommierte Internat gelesen hatte, wusste sie, dass sie eines Tages hierher kommen musste. Dieses Gefühl verstärkte sich, je mehr sie recherchiert hatte. Nancy hingegen verspürte diesen Drang weniger stark. Wie es wohl bei den anderen war? Wenn sie doch nur den Mut hätte, einen ihrer Mitschüler danach zu fragen…
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