„Ich hab vor Aufregung kaum ein Auge zu bekommen“, antwortete Max heiter.
Da Felix sich bisher dezent in Zurückhaltung übte, band der Vertrauenslehrer ihn unbefangen in das Gespräch ein: „Hast du ihnen etwa mit Horrorgeschichten zum Unterricht den Schlaf geraubt, Felix?“
Eindrucksvoll bewies sein Bruder, wie gut Zac ihn einschätzen konnte und es wie erwartet ein Fehler war, den schlecht gelaunten Esel anzusprechen. Der Jüngere ließ den Löffel klirrend in die Müslischale fallen und baute mit seinem Stuhl Distanz zum Tisch auf.
„Es ist auch der blanke Horror hier“, stieß Felix schlecht gelaunt aus, nahm sich sein Tablett und entfernte sich von ihnen.
Es erleichterte Zac zwar, dass die Situation nicht eskalierte, doch Begeisterung weckte es in ihm auch nicht.
Er wollte Felix folgen, aber der Klassenlehrer hielt ihn auf: „Lass ihn ruhig.“
Beide begleiteten den Jüngeren mit Blicken aus der Mensa. Mr. Serras Mimik blieb unverändert entspannt, was Zac von seiner eigenen nicht behaupten konnte. Auch die folgende Aussage änderte nichts daran.
„Es ist schon ein Fortschritt, dass er zum Frühstück erschienen ist. Wenn er nachher noch zum Unterricht kommt, ist es ein erfolgreicher Tag.“
„Ein Morgenmensch war er noch nie“, pflichtete Max zur Rechtfertigung von Felix’ Verhalten bei.
„Ihr kommt beide aus Bayern, nicht wahr? Aus welcher Gegend genau?“, griff Mr. Serra ein neues Thema auf, in das der Blondschopf begeistert einstieg.
„Wir kommen aus München, aber gebürtig stammt meine Familie aus Russland.“
Im Plauderton weckte er das Interesse seines Klassenlehrers, als er redefreudig von seinem erst kürzlich zurückliegenden Urlaub in Russland ausholte.
Er erfreute sich an der Aufmerksamkeit und verriet dem Pädagogen weiter: „Geboren wurde ich in Sankt Petersburg. Dort haben wir noch ein Jahr lang gelebt, bevor wir ausgewandert sind, aber leider kann ich mich an nichts davon erinnern. Na ja, so kann ich zumindest auch nichts vermissen.“
Zac hielt sich zurück und ärgerte sich noch immer über das unreife, flegelhafte Verhalten seines Bruders. Musste er wie ein böser Esel austreten, obwohl ihn niemand provoziert oder angegriffen hatte?
Frustriert leerte er in einem Zug den Inhalt seiner Tasse. Noch bevor er sie wieder hinstellen konnte, bemerkte er, wie erwartungsvolle Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Unschlüssig, was er sagen sollte, wanderte seine Aufmerksamkeit von Mr. Serra zu Max und wieder zurück. Mit einem geräuschvollen Räuspern stellte er den Becher vor sich und hätte sich der unangenehmen Situation gerne entzogen. Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, worüber die beiden sich gerade unterhalten hatten und was sie jetzt von ihm wissen wollten. Handelte das Gespräch immer noch von Maxims Geburtsort?
„Ich habe gerade von den letzten Urlauben in Polen und der Schweiz erzählt“, brachte der Blondschopf ihn auf den neuesten Stand.
„Und von euren gemeinsamen Ferien in Österreich. Es ist schön zu erfahren, dass eure Familien befreundet sind“, fügte Mr. Serra hinzu.
„Ich war so oft bei Zac und Felix, dass manche schon gedacht haben, ich gehöre zur Familie und wäre Tante Helens dritter Sohn“, stimmte Maxim begeistert zu und ließ sich das Bedauern über die veränderten Zeiten keinen Moment zu lang anmerken. „Jedenfalls hat Mister Serra dich gefragt, welche Länder Felix und du schon mit euren Eltern gesehen habt.“
„Eigentlich nur Frankreich und Italien“, beantwortete Zac verzögert und fuhr sich beschämt wegen seiner Unaufmerksamkeit durch den hellblonden Haarschopf. „Sehr weit konnten wir nicht reisen. Felix war nicht leicht in ein Flugzeug zu kriegen und das Geschrei wurde unseren Ohren irgendwann auch zu viel.“
Der Vertrauenslehrer nickte verstehend. Auf seine Lippen hat sich ein Schmunzeln geschlichen.
„Wir haben die meisten Urlaube deshalb eher auf Bauernhöfen an der österreichischen Grenze verbracht.“
„Das Umland der Münchner Gegend dürfte auch nicht zu verachten sein.“
„Ganz im Gegenteil“, erwiderte Zac, „Wir sind sehr froh, nicht im Stadtzentrum zu leben, sondern ziemlich außerhalb, wo es etwas ländlicher ist. Da ist der Weg zu den großen Bauernhöfen nicht sehr weit.“
„Viel ist aus Felix zwar nicht rauszubekommen, aber er hat kurz erwähnt, dass er die Urlaube dort sehr gemocht hat.“
Dafür hatte Zac nur ein müdes Lächeln übrig. Sicher hatte Felix nur auf Bitten und Drängen den Mund aufgemacht und etwas über sich gesagt. Wenn es so abgelaufen war, wie gerade eben, wäre ein Soldat der königlichen Grenadier-Garde ein unterhaltsamerer Gesprächspartner als sein bockiger, kleiner Bruder.
„Wir sehen uns nachher in der Klasse, Aaron.“ Als der bekannte Name an seine Ohren drang, drehte Zac unbewusst den Kopf.
Besagter Junge schob mit dem Zeigefinger seine Brille über den Nasenrücken und verließ eiligen Schrittes die Mensa. Zac konnte kaum sein Profil erkennen, so nervös wie er an ihm vorbeigegangen war. Bei dem introvertiert wirkenden Jungen musste es sich um Aaron Smith handeln, dem ehemaligen Mitschüler von Felix, mit dem es im letzten Schuljahr zu Problemen gekommen war.
„Ist es für dich in Ordnung, wenn ich mit ihr mitgehe?“, fragte Max, woraufhin Zacs Augen erwartungsvoll zu ihm zurückfanden. Er wurde auf Lilly aufmerksam, die zu ihnen an den Tisch gekommen war und zusammen mit Max auf eine Antwort lauerte.
„Na, hau schon ab, immerhin besteht bei euch akute Verirrungsgefahr.“ Auf den Lippen des Deutschen bildete sich ein herzliches Lachen.
„Ist doch besser, wenn ihr euch gegenseitig zum Klassenzimmer eskortiert. Wir sehen uns dann später.“
Auch Mr. Serra zeigte sich amüsiert über den Umgang der Freunde aus München und verabschiedete sich mit einem „Wir sehen uns in der Klasse“ von den beiden.
Allmählich leerte sich die Mensa. Immer mehr Schüler verließen den Saal, manche sogar etwas in Eile.
„Ich sollte ein gutes Vorbild sein und selbst nicht zu spät kommen“, schob Mr. Serra hinterher und machte mit einem kurzen Tippen auf seine Armbanduhr auf die schwindende Zeit aufmerksam.
Einen Arm nach hinten zur Lehne ausgestreckt, rutschte er mit dem Stuhl zurück, doch Zac wollte die Chance ergreifen und den Vertrauenslehrer auf ein Problem des letzten Schuljahres ansprechen. „Hätten Sie noch kurz Zeit?“
Die Gelegenheit war günstig, sie waren unter sich. Zac wollte sich ein Bild vom derzeitigen Stand des Streits zwischen Felix und einem seiner Mitschüler machen. Seinen Bruder danach zu fragen, würde nur für böses Blut sorgen und mit dem Befehl enden, sich nicht in seine Angelegenheiten einzumischen.
Mr. Serra stoppte seine Bewegung und sein Blick verharrte einen Augenblick abwartend auf ihm. Träge senkte Zac seine Lider und starrte auf die ausgetrunkene Tasse, die er mit seinen Händen umschlossen hielt. Das Porzellan hatte noch etwas Restwärme des heißen Kaffees gespeichert.
„Worum geht es?“
Plötzlich hörte sich die Stimme des Lehrers ernst an und dem unangenehm quietschenden Geräusch nach zu urteilen, rückte er wieder an den Tisch. Zac führte seine Fingerspitzen aneinander, bevor sie sich fester um den Bauch der Tasse schlangen.
„Es geht um Felix und diesen Aaron.“
Abwartend wanderte sein Blick zu Mr. Serra, der gefasst auf die Andeutung reagierte. Er veränderte lediglich seine Haltung, indem er seinen Oberkörper weiter nach vorne lehnte und seine Ellenbogen auf den Tisch stützte. Unter seinem Kinn umschloss er eine Hand mit der anderen, deuteten dabei ein Nicken an.
„Ich kann gut verstehen, dass die Maßnahme, mit der wir deinen Bruder bestraft haben, für deine Eltern und dich sehr hart wirkte“, fing er an und dämmte die Lautstärke seiner Stimme bewusst, „aber wir kamen nicht an einer Abmahnung herum. Felix hat sich anhaltend uneinsichtig gezeigt und war nicht gewillt, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen und sie friedlich zu klären.“
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