Das war nicht das, worüber er mit Mr. Serra sprechen wollte, dennoch nickte Zac verstehend. Er hatte nicht daran gezweifelt, dass die Abmahnung auch weiterhin seine Gültigkeit behalten würde, auch wenn er sich gewünscht hätte, dass alles nur ein böser Irrtum gewesen sei. Felix war kein Musterschüler, aber Zac hielt ihn auch nicht für jemanden, der ungemochte Mitschüler drangsalierte, demütigte und anschließend bedrohte.
„Felix ist schwierig, aber er ist kein schlechter Mensch.“
Nachdem er sich für seinen Bruder ausgesprochen hatte, bildete sich ein schiefes Lächeln auf den Lippen des Deutschen. Wie oft der Vertrauenslehrer solche Aussagen wohl schon gehört haben musste, wenn es um Vergehen seiner Schüler ging?
„Das hat auch keiner behauptet“, beschwichtigte Mr. Serra ihn. „Niemand hat deinen Bruder aufgegeben und das Wiederholungsjahr wird ihm guttun.“
Dass Felix mit dem Schulstoff nur schwer hinterherkam, war oft Thema der Telefonate mit dem Direktor gewesen. So hatten seine Eltern und der Schulleiter einvernehmlich beschlossen, dass er nicht in den zweiten Jahrgang vorrücken durfte.
„Dadurch geht er zumindest nicht mehr mit Aaron in eine Klasse und die beiden können sich besser aus dem Weg gehen“, sprach Zac seine Gedanken laut aus.
„Auch, aber das war nicht der Grund, wegen dem wir Felix nicht versetzt haben. Wir hätten ihm zum derzeitigen Stand bei den Anforderungen im zweiten Jahrgang keinen Gefallen getan“, entgegnete der Lehrer und erriet: „Machst du dir Gedanken, ob es zwischen dir und Aaron deshalb zu Problemen kommen könnte?“
„Ich möchte nicht, dass auf beiden Seiten gewisse Unsicherheiten entstehen, weil ich Felix’ Bruder bin“, erwiderte Zac und spielte mit der Tasse in seinen Händen.
„Ich habe nach der Auseinandersetzung einige Gespräche mit Aaron geführt und kann dich beruhigen. Er wird dir gegenüber unvoreingenommen sein.“
„Das ist gut zu wissen.“
Damit war für Zac fürs Erste alles Wichtige geklärt, um sich bedenkenlos zum Unterricht begeben zu können.
Gerade als er sich bei Mr. Serra für das kurze Gespräch bedanken wollte, suchte Ms. Kane ihren Kollegen auf und schritt mit einigen Büchern in den Armen auf sie zu. Mit einem beschwingten Morgengruß strahlte sie ihn und den Vertrauenslehrer an. Zacs Mundwinkel hoben sich angesteckt von der guten Laune der Pädagogin. Schon gestern während der Vorstellung und bei der zwanglosen Zusammenkunft von Lehrern und Schülern war ihm aufgefallen, dass die Rothaarige eine wahre Frohnatur zu sein schien, die ihn mit ihrem heiteren Wesen an Maxim erinnerte.
Ein entschuldigender Ausdruck schmälerte das herzliche Lächeln der Lehrerin: „Ich wollte nicht stören, aber ich muss ganz dringend noch etwas wegen dem Unterricht mit dir bereden.“
„Sie stören nicht, wir waren sowieso fertig.“ Zac winkte vorsorglich ab. Ein kurzer Blickaustausch genügte, um Mr. Serra zu versichern, dass er sich ohne schlechtes Gewissen seiner Kollegin widmen konnte.
„Wenn es wider Erwarten doch zu Problemen kommen sollte, lass es mich bitte wissen.“
Noch blieb Zac zuversichtlich und glaubte an ein friedliches Klassenklima, um das auch er sich bemühen wollte. „Werde ich. Und vielen Dank, dass sie sich Zeit genommen haben.“
04.09.2018 – Morgen
Morrison Memorial, Klassenzimmer erster Jahrgang
Gemeinsam mit seiner neuen Bekanntschaft begab Max sich zu den Unterrichtsräumen in den ersten Stock. Begeistert stellte er bei einem Blick auf das Schild neben der Tür fest, dass sie angekommen waren, ohne sich zu verlaufen. Seine Mitschülerin schritt unbeirrt voran, doch Max brauchte noch einen Moment, um sich zu sammeln. Mit einem tiefen Durchatmen versuchte er seine Aufregung zu unterdrücken und sie hinter einem munteren Lächeln zu verbergen.
Mit dem Gong zum Unterricht würde der Ernst des Lebens nach wochenlanger Freizeit losgehen. Man verdrängte ihn in den Sommerferien, als stopfe man eine dicke Winterjacke während der warmen Monate ganz nach hinten in den Kleiderschrank. Sie war noch da, aber wurde erst wieder herausgeholt, wenn es schon bitterkalt war.
Die vor Eifer funkelnden Augen des blonden Schülers betrachteten jeden Winkel des neuen Klassenraums, als er sich nach dem Glattstreichen seines Hemdes endlich einzutreten wagte. Die Schuluniform war noch ungewohnt für Maxim und saß etwas steif am Körper.
Es roch nach frischer Farbe, die sich mit dem Hauch mehrerer Parfüms und Deodorants vermischte. Unbewusst nahm er einen geräuschlosen Atemzug und bestaunte die zart violette Wandfarbe des Zimmers, die offenbar erst vor kurzem neu aufgetragen worden war.
Ein kleines Bücherregal stand hinter dem grauen Lehrerpult, auf dem verschiedene Geräte ihren Platz fanden. Neben dem Laptop und einem Drucker war ein Tageslichtprojektor am Ende des Tisches integriert. Einen häufigen Nutzen schrieb Maxim ihm allerdings nicht mehr zu. Neben der Tafel war ein moderner Monitor angebracht, der mit mehreren Kabeln mit dem Notebook verbunden war. Die Tafel war so, wie er es kannte: Zu Anfang des Schuljahres sauber gewischt und die Kreide lag ordentlich in den Behältern am unteren rechten Ende der Fläche.
An der Türseite erstreckte sich eine riesige Landkarte, die mit verschiedenen Markierungen gespickt war. Neugierig trat Max näher und stellte fest, dass eingezeichnet wurde, aus welchen Nationen die Schüler der Klasse stammten. Wie er feststellte, waren Felix und er die einzigen aus Deutschland kommenden Internatsbesucher des ersten Jahrgangs.
„Wow! Echt der Wahnsinn aus wievielen verschiedenen Ländern wir alle kommen.“
Die Vorfreude auf viele neue Erfahrungen drückte er in einem höflichen Morgengruß an seine anwesenden Mitschüler aus, die teilweise in Gespräche vertieft waren. Trotzdem erhielt er von den meisten eine positive Rückmeldung und erwiderte zufrieden jedes einzelne Lächeln.
„Das nennst du der Wahnsinn? Sieh dir nur an, wie neu und modern hier alles ist. Sogar die Vorhänge passen zu der Wandfarbe.“ Lilly fasste begeistert nach einer der langen Gardinen. „In meiner alten Schule gab es eine Zeit lang nicht mal Fenster, die nicht ständig geklemmt haben und nur mit Gewalt aufzukriegen waren. Im Sommer die pure Zumutung.“
Lillys Schule war ein altes Gemäuer, das dringend renoviert werden musste. Zumindest hatte sie es Maxim bei ihrem Ausflug in den Internatsgarten so geschildert. Im Vergleich musste ihr die Morrison Memorial School wie ein Schloss vorkommen.
„Ganz so schlimm war es bei uns in München nicht, aber so schön wie hier sah es in keinem Zimmer aus“, entgegnete Maxim.
Auf seinem Weg zu der großzügigen Fensterfront begrüßte er mit einem dezenten Lächeln die ungleichen Schwestern aus Amerika. Auch heute waren sie nicht redefreudiger und ignorierten die anderen Mitschüler weitgehend. Ihm war gestern schon aufgefallen, dass die beiden gerne unter sich waren, weswegen er sie auch jetzt nicht ansprach und sich lieber dem Ausblick zum Internatsgarten widmete.
Die Fenster waren so groß und breit, dass der Raum vom Sonnenlicht geflutet wurde. Max blinzelte in das schmeichelnde Licht und genoss den sachten Luftzug, die Unterarme nebeneinander auf die Fensterbank abstützend.
„Hier braucht sich niemand darüber den Kopf zu zerbrechen, durch die Schule zu wenig Tageslicht abzubekommen“, kommentierte er den Luxus an Sonneneinstrahlung.
„Du möchtest bestimmt einen Fensterplatz, oder?“
Der Vermutung weder zustimmend noch verneinend, drehte Max sich um, den Rücken an die Fensterbank gelehnt. Es gab noch viele freie Plätze, unter anderem den neben Felix, der ganz hinten in der Fensterreihe versuchte, sich möglichst vor den Lehrern zu verstecken. Jeder andere Platz wäre auch untypisch für ihn gewesen.
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