„Sollen wir auf dich warten?“
Felix hatte für Zacs gewagtes und betont unschuldiges Angebot nur Ignoranz übrig. Mit einem feindseligen Schnauben rempelte er Max gegen die Schulter, stieß ihn grob zur Seite und schlug die Badezimmertür lautstark hinter sich zu.
04.09.2018 – Morgen
Morrison Memorial, Speisesaal
In der Mensa herrschte bereits reger Betrieb. Viel Auswahl war Zac, Max und Felix deshalb nicht geblieben, weshalb sie den erstbesten freien Tisch in der Nähe der Eingangstür für sich beanspruchten.
Einige Schüler hatten ihr Frühstück schon beendet und unterhielten sich in geselliger Runde über die Eindrücke, die sie am Vortag gesammelt hatten. Sie sprachen über den ersten Schultag, die neuen Lehrer sowie die unbekannten Mitschüler.
Eher beiläufig verfolgte Zac während seines Frühstücks die Gespräche der anderen, immer, wenn Max ihm eine kurze Pause von seinem Redeschwall gönnte. Seit sie zu dritt das Zimmer verlassen hatten, war Max damit beschäftigt, aufgeregt von seinen Begegnungen am Anreisetag zu berichten. Er erzählte es mit solch einer Begeisterung, dass man glauben könnte, er befände sich mitten in einem spannenden Abenteuer. Dabei war ihm sogar entgangen, dass er ein Brötchen nach dem anderen auf sein Tablett gelegt hat. Die Dame, die in der Mensa arbeitete, hat sich zum Glück verständnisvoll gezeigt und Max nicht getadelt, als er reumütig zum Buffet zurückgeschlichen war, um die überschüssigen Brötchen wieder abzugeben.
„Ah, da vorne ist sie“, stellte Max begeistert fest, als er Lilly an einem der Nebentische entdeckte und ihr zuwinkte.
Zac, der die neue Bekanntschaft seines Freundes gestern kurz kennenlernen durfte, lächelte ihr freundlich zu. Er dachte daran, wie sehr Max sich während des Hinflugs den Kopf über seine zukünftigen Mitschüler zerbrochen hatte, aus Sorge, die Scherze seiner Geschwister würden sich bewahrheiten. Wohlwollend gönnte er Max die neue Freundin, die unterstrich, dass seine Befürchtungen, das Internat wäre nur von verwöhnten Gören besiedelt, völlig unnötig waren. Dem Blondschopf tat es sichtlich gut jemanden gefunden zu haben, mit dem er auf einer Wellenlänge lag.
Zac wünschte sich, dass sein Bruder auch etwas euphorischer und interessierter durchs Leben wandeln würde, statt ein unausstehliches Verhalten an den Tag zu legen. Deutliche Verständnislosigkeit zeichnete sich auf dem Gesicht des Älteren ab, als er Felix dabei beobachtete, wie dieser den Löffel in seine Müslischale tauchte, die Milch aber nicht wie erwartet zum Mund führte. Stattdessen beobachtete er angewidert, wie sie zurück in die Schüssel tropfte.
Es hätte ihn sicher milder gestimmt, wenn Zac ihm seine Cornflakes gestattet hätte, doch solange er diesen Zirkus am Morgen veranstaltete und nicht artig von alleine aufstand, enthielt er sie dem Jüngeren vor.
„Jetzt hab dich nicht so.“
Ohne den Kopf zu heben, richteten sich Felix’ Augen strafend auf ihn. Lange gewährte er es Zac nicht, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten. Der sture Esel rührte lustlos in seinem Müsli und stützte seinen Kopf missgestimmt auf der Hand ab. Es war ihm unschwer anzusehen, dass er Zacs Erziehungsmaßnahmen nicht tolerierte und innerlich gegen den großen Bruder wetterte.
„Das ist nur zu deinem Besten“, sagte Zac so versöhnlich wie möglich und hoffte, dass Felix nicht erneut irgendeine versteckte Provokation in seinen Worten finden konnte.
„Genau wie Mama und Papa es für mein Bestes halten, mich auf dieses bescheuerte Internat zu schicken“, entgegnete Felix gehässig.
Das feindselige Verhalten setzte Zac zu, er versuchte es sich aber nicht anmerken zu lassen. Seine Mundwinkel zuckten schwach nach oben, deuteten ein trauriges Lächeln an, mit dem er seinen kleinen Bruder bedachte. Es war nicht leicht für ihn gewesen, aus seinem vertrauten Umfeld gerissen zu werden und eine Schule in einem fremden Land besuchen zu müssen. Zac konnte nachvollziehen, dass er sich alleingelassen fühlte. Aber dafür war er jetzt bei ihm, um ihm auf die richtige Spur zu helfen. Realistisch gesehen musste Zac sich eher damit zufriedengeben, dafür zu sorgen, dass Felix nicht noch weiter vom rechten Weg abkam. Noch lag ein erstes Erfolgserlebnis in weiter Ferne, aber er würde sich hüten, den Mut zu verlieren. Felix würde immer sein kleiner Bruder bleiben, an dessen guten Kern er immer glauben würde.
Unerschütterlich hielt er an den guten Zeiten fest, indem er sich mit einem Lächeln daran erinnerte, wieviel Spaß sie als Kinder miteinander gehabt hatten. Sie waren so unbeschwert gewesen, frei von jeglichen Sorgen. Nur selten hatte es Streitigkeiten und bittere Tränen aus Gründen gegeben, die nicht innerhalb von wenigen Stunden wieder geklärt werden konnten.
„Lass uns früh genug zum Klassenraum gehen, damit wir gute Plätze bekommen“, warf Max ablenkend ein, wofür Zac ihm dankbar war.
Die Stimmung war dabei gewesen, noch weiter zu kippen, wenngleich das Thema Unterricht vom Jüngsten auch nicht wohlwollend aufgenommen wurde.
„Gibt es denn schlechte Plätze?“, mischte sich noch jemand ein und klopfte, auf sich aufmerksam machend, auf den Tisch: „Ich wünsche euch einen schönen guten Morgen. Habt ihr noch einen Platz frei?“
Zac hob den Blick und deutete auf den freien Platz neben Felix, der darüber alles andere als begeistert war. Kaum merklich schüttelte er über die mürrisch verzogene Miene seines Bruders den Kopf.
„Natürlich, Mister Serra.“
Ein plötzlicher Ruck fuhr durch seinen Körper, als sich ein dumpfer Schmerz an seinem Schienbein ausbreitete. Reflexartig beugte Zac seinen Oberkörper nach vorne, um mit einer Hand über die getroffene Stelle zu reiben. Seinem Bruder warf er einen vorwurfsvollen Blick zu. Es war offensichtlich, dass er ihn getreten hat.
„Ich wollte damit eigentlich sagen, dass Felix und ich uns beeilen wollen, um gute Plätze ganz vorne zu bekommen“, korrigierte Max sich mit einem verlegenen Lachen.
Zacs Blick lag unverändert auf Felix, der Maxims Pläne mit einem abwertenden „Spinnst du?“ von sich wies.
Warum konnte er sich nicht einmal zusammenreißen und dem Lehrer anständig einen guten Morgen wünschen? War das wirklich zu viel verlangt? Anscheinend. Felix blieb bei seiner ablehnenden Haltung und löste ein leises Seufzen bei Zac aus.
Mr. Serra nahm es seinem Schüler nicht übel, wenn Zac die entspannte Mimik richtig deutete. Deshalb verwarf er das Vorhaben, seinen Bruder ebenfalls mit einem leichten Tritt an Höflichkeit zu erinnern. Wahrscheinlich machte er sich zu viele Gedanken. Der Vertrauenslehrer kannte Felix schon vom letzten Schuljahr und wusste über dessen Dickköpfigkeit bestens Bescheid.
„Macht euch darüber mal keinen Kopf. Ich werde schon dafür sorgen, dass sowohl in den vorderen, als auch in den hinteren Reihen genug Wissen ausgeteilt wird“, erwiderte der Vertrauenslehrer gelassen.
Bisher machte Mr. Serra den sympathischen Eindruck, den Zac nach den obligatorischen Anrufen bei seinen Eltern von ihm erwartet hatte. In regelmäßigen Abständen hatten der Lehrer und Mr. Barnheim mit seinem Vater telefoniert, um ihm Neuigkeiten von Felix zu berichten.
Zac nahm einen Schluck vom heißen Kaffee und musterte Felix einen Moment. Der Jüngere konnte sich nicht ansatzweise vorstellen, wie unerträglich es für ihre Eltern und ihn gewesen war, wenn alle Nachrichten ignoriert und Anrufe konsequent abgewiesen wurden.
„Habt ihr die erste Nacht vor dem Unterricht gut geschlafen? Oder seid ihr unter anderem wegen der Platzwahl zu aufgeregt gewesen?“ Ein schelmisches Schmunzeln erhellte Mr. Serras Gesichtszüge und verstärkte die Vermutung, dass er nicht zu der boshaften und strengen Art von Lehrern gehörte, die jedes leise Tuscheln mit ausdrucksstarker Autorität zu ersticken versuchten. Entweder hielt diese Einstellung ihn jung oder er war tatsächlich noch nicht sonderlich alt, denn Zac schätzte ihn allerhöchstens auf Mitte dreißig.
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