Victoria würde es vielleicht gar nicht so eng sehen, aber die Welt in der sie lebte, war ihm fremd. Sehr fremd. Seine Eltern lebten seit jeher zur Miete, sein Vater war früher Bergmann gewesen, als die Zeche schloss machte er eine Umschulung und arbeitete seitdem als Fachberater in einem Baustoffhandel. Seine Mutter war seit Jahr und Tag Bäckereifachverkäuferin. Die beiden hatten immer zu ihm und Anna gesagt: »Seht zu, dass ihr es im Leben zu etwas bringt, das euch ernährt, Spaß macht und womit ihr glücklich seid.« Er und seine Schwester hatten es beherzigt. Zu würdigen wusste er die Leistung seiner Eltern erst jetzt. Und schämte sich umso mehr, dass er zumindest einen Teil seines Lebens so in den Sand gesetzt hatte. Ich muss die beiden dringend mal wieder besuchen.
Nachdem Magnus ihr Büro verlassen hatte, setzte sich Victoria an den Schreibtisch, kaute auf dem Rand der Red-Bull-Dose herum und versuchte, sich zu konzentrieren. Er war hier gewesen. Ihr Herz stolperte immer noch vor sich hin. Der Worst Case war eingetreten und entpuppte sich als Glücksfall. Es hatte sich alles von allein ergeben.
Sie schloss die Augen, erinnerte sich an das Gefühl, das seine Lippen auf ihrer Haut hinterlassen hatten, sein Lächeln. Der Abschied war beiden extrem schwergefallen. Was Magnus über sie und das Bild gesagt hatte, hatte sie aus dem Konzept gebracht. Er hatte sie danach ein letztes Mal fest in die Arme geschlossen und sie lang auf die Stirn geküsst. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten sich daraufhin ihre Lippen zu einem Kuss gefunden, als sie auch schon wieder voneinander ablassen mussten, weil der Fahrer an die Tür klopfte.
Victorias Handy schellte. Elisabeth von Eschberg.
»Hallo Liebelein. Wie geht es euch?«
»Oh, frag nicht. Ich bin positiv auf müde getestet worden ... Und ich kann gar nicht so viel frische Luft atmen, wie mir übel ist ... Ich bin müde, mir ist speiübel und ich bin müde. Erwähnte ich bereits, dass ich müde bin?«
»Du Arme. Kann ich dir was Gutes tun?«
»Nicht nötig, Moritz trägt uns auf Händen, wo er kann. Aber gegen die Schwangerschaftssymptome ist noch kein Kraut gewachsen. Ich wollte dir eigentlich auch nur kurz hallo sagen und dich und Magnus zum Abendessen bei uns einladen, irgendwann nächste Woche.«
»Oh, das ist nett. Ich flieg aber heute Abend nach Dubai und werde vor dem 01.08. wohl nicht zurück sein.«
»Ach herrje. Wie hält Magnus das aus?«
»Gute Frage ... Ich hoffe, er hält es überhaupt aus.«
»Hm, so eine junge Liebe direkt derart auf den Prüfstand zu stellen ist aber auch gemein ...«
»Ich weiß ja, dass du aus Erfahrung sprichst.« Victoria seufzte. »Sag mal, wie sehr hattest du damals damit zu kämpfen, dass Moritz ... nun ja ...«
»Du meinst ›so reich ist, ein Prinz und Erbe von Eschberg‹?« Elisabeth klang völlig entspannt.
»Ja. Ich meine, eigentlich wollte ich dich das nicht fragen, aber ich zermartere mir das Hirn ...«
»Liebelein, ich war total geschockt, als das herauskam. Und habe mir Bedenkzeit erbeten. Uns beiden war ja klar, dass wir zusammen sein wollten, zusammengehören. Aber ich hatte mächtig Angst davor, Prinzessin von Eschberg zu sein. Ich kam mir vor wie Cinderella ... Und du weißt, dass das nicht mein Ding ist. War. Aber weißt du, Georg hat mich damals beinahe mehr aufgefangen als Moritz. Der war noch ein bisschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Irgendwie ging das auch alles etwas schnell, zu schnell. Deswegen ja auch die unrühmliche Trennung zwischenzeitlich. Aber das vorläufige Ende vom Lied kennst du ja.«
»Ja ...« Victoria seufzte erneut. »Danke, dass du mir das noch mal so vor Augen geführt hast. Magnus war nämlich heute hier und hat quasi ›die volle Dröhnung ECG‹ bekommen.«
»Auweia.«
»Ja. Ich hatte mich im Büro eingeschlossen, um abzuschalten. Dann kam die Nachricht von Hakim, dass ich dringend eher kommen muss und plötzlich steht Markus vor meinem Schreibtisch und faselt was von Magnus. Ich hab das erst gar nicht kapiert.«
Elisabeth lachte laut. »Nein ... Und dann?«
»Na ja, dann habe ich Magnus in mein Büro geholt, wir haben was gegessen, ein bisschen geredet und dann musste er auch schon wieder los.«
»Und jetzt hast du Angst, dass er über die zeitliche und räumliche Trennung auf zu viele komische Ideen kommt?«
»Ja.«
»Ich hatte aber den Eindruck, dass du ihm vertraust. Und dir ziemlich sicher seinetwegen bist. Jetzt mal unter uns Pastorentöchtern; du hast noch nie jemanden mit ins Daily gebracht. Ihr habt ja quasi auf dem Präsentierteller gesessen ... und Magnus scheint mir auch niemand zu sein, der sich mit dir in die Öffentlichkeit wagen würde, wenn er sich nicht bereits sicher wäre.«
»Will heißen?«
»Liebelein, auch wenn du das noch nicht so siehst, ich bin mir sicher, dass ihr beide zusammengehört. Punkt.«
»Du bist so weise.«
»Und so müde ...« Elisabeth gähnte wie zum Beweis. »Liebelein, melde dich einfach, wenn du aus den VAE zurück bist. Entweder zum Abendessen zu viert oder, wenn du seelischen Beistand möchtest, auch gern allein. Hm?«
»Mach ich. Dann legt euch mal fein hin und ruht euch aus ...«
»Machen wir, machen wir.«
Magnus sah auf die Uhr. Zehn nach neun.
In einer Viertelstunde würde Victoria fliegen. Er saß immer noch in seinem Büro, hatte Unmengen an Urteilen gefällt, Beschlüsse unterzeichnet und sich durch sechs Gürteltiere gearbeitet. Der Stapel wurde kleiner. Die Unsicherheit wuchs. Vor zwei Stunden hatte sie ihn noch einmal angerufen. Er war froh, ihre Stimme zu hören, aber es schürte die Sehnsucht nach ihr schon so sehr, dass er sich ernsthaft fragte, wie er die nächsten vermutlich zweieinhalb Wochen überleben sollte.
💎 Hey, gleich bin ich für die nächsten knapp 6,5 h offline. Ich werde versuchen, zu schlafen, und dir schreiben, wenn ich in DXB angekommen bin. Du fehlst mir.
🎓 Du mir auch. Habe Dubai bereits in der Weltzeituhr gespeichert, damit ich immer weiß, wie spät es bei dir gerade ist. Bin noch im Gericht. Pass auf dich auf 😚
💎 Mache ich. Und du sei schön fleißig! Wenn ich wieder da bin, wäre es schön, wenn wir ein bisschen Zeit für uns haben.
🎓 Versprochen. Und wenn ich mich krankmelden muss 😉
Er überlegte. Getippt hatte er es schon. »Ich liebe dich«. Dann wieder gelöscht. Wieder getippt. Gelöscht. Victoria war keine Frau, der man das einfach so schrieb. Er wollte es ihr lieber sagen. Persönlich.
💎 Aber erst mal sehen wir uns wohl in Bärenthal, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, oder?
🎓 Ja. Stimmt. Total vergessen. Wobei, ich überlege gerade, das zu verwerfen.
💎 Aber nicht meinetwegen, oder?
🎓 Jein. Ich habe an dem Samstag Geburtstag und eigentlich steht mir dieses Jahr nicht wirklich der Sinn danach, den im Kreise meiner irren Mittelalterfreunde zu feiern. Andererseits habe ich im Juni mein Schwert zerhackt, die Klinge ist unrettbar hinüber. Ich hatte eigentlich gehofft, mir auf dem Markt ein Neues zuzulegen.
Magnus kratzte sich am Kopf. Warum schrieb er ihr das jetzt?
💎 w/Schwert: wie blöd. Wo rohe Kräfte sinnlos walten? Oder wie passiert so was? w/Geburtstag: Ist es dir denn dann überhaupt recht, wenn ich bei euch im Lager rumkomme?
🎓 Das mit dem Schwert war Tobias. Ich bin froh, dass mein Arm noch dran ist. Aber das muss man szenisch erklären, kaum in Worte zu fassen, wie die Aktion abgelaufen ist. Und mit meinem Geburtstag ... Hm. Der ist mir noch nicht mal so wichtig. Die Jungs machen halt nur immer ein ziemliches Theater darum, wenn einer von uns während des Marktes Geburtstag hat. Eigentlich wäre mir viel lieber, wenn du und ich die versprochene Zeit für uns hätten.
💎 Wenn ich das richtig sehe, bleiben uns rein statistisch noch ca. 50 Jahre. Kommt es da auf ein Wochenende an? 💋 Wir rollen übrigens ...
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