»Das dürfte wohl kaum als Motiv für die Tat ausreichen«, unterbrach Hansen Marquardts Ausführungen. »Aber das passt zu der Aussage des ehemaligen Kollegen Georg Fuchs, der uns auch erzählt hat, dass unser Opfer kein Kinderfreund gewesen sein soll.«
»Niemand aus der Nachbarschaft konnte sich vorstellen, wer ein Motiv haben könnte, Neumann zu ermorden, obwohl er ganz offensichtlich nicht sonderlich beliebt war«, ergänzte Beck abschließend.
»Und doch hat es jemand getan«, erwiderte Hansen genau in dem Moment, als Riedmann ins Büro stürmte.
»Die Kollegen aus Dresden konnten mir nicht weiterhelfen. Sie haben keine Akten mehr aus der Zeit vor der Wende. Allerdings haben sie mir den Tipp gegeben, mich einmal an die Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen zu wenden. Die BStU könnte noch Akten von Herbert Neumann haben«, meinte Hansens Partner.
»Dann weißt du ja, was du zu tun hast, Stefan«, sagte der Hauptkommissar nur. »Und wir drei durchleuchten mal intensiv das Umfeld des Toten. Finanzen, Familie, einfach alles, was uns hilft, uns ein Bild von dem Toten zu machen. Nach allem, was wir bisher wissen, fürchte ich, dass die Aufklärung der Todesumstände eine harte Nuss werden könnte.«
Kapitel 7
Dienstag, 19. September 2017
Hansens erster Weg an diesem Dienstagmorgen führte ihn geradewegs in das Büro seines Vorgesetzten, Kriminalrat Hellhausen. Der Leiter der Mordkommission wollte seinen Chef auf den neuesten Stand der Dinge bringen. Hellhausen erwartete Hansen bereits.
»Guten Morgen, Karl. Setz dich doch bitte.«
Hansen erwiderte den Gruß und nahm auf dem Besucherstuhl, der direkt vor Hellhausens Schreibtisch stand, Platz. »Ich wollte dir berichten, was wir bisher im Fall Neumann herausgefunden haben. Auch wenn das zugegebenermaßen nicht allzu viel ist. Das Opfer wurde nach unserem bisherigen Ermittlungsstand am Samstag zunächst gefoltert und später erdrosselt. Letzteres lässt vermuten, dass es sich bei dem Mörder um einen Mann handelt, da für diese Tötungsart statistisch eher ein männlicher Täter in Betracht kommt. Allerdings haben wir dafür noch keinen Beweis.«
»Gibt es brauchbare Zeugen?«
»Leider nein. Überhaupt niemand. Wenn Neumanns Kollege nicht so hartnäckig gewesen wäre, hätte man den Mann wahrscheinlich bisher noch nicht einmal gefunden. Er lebte seit dem Tod seiner Frau alleine und sehr zurückgezogen. Neumann galt sowohl bei den Nachbarn als auch bei seinen Kollegen als Einzelgänger ohne Freunde und ohne Feinde, wie die Befragten sagen.«
»Weder Freund noch Feind, hm«, dachte Hellhausen laut nach.
»Dann haben wir noch eine ganz interessante Spur. Neumann war offensichtlich mal ein Kollege von uns, Polizist. In der DDR. Wir haben am Tatort seine Dienstmarke gefunden. Sofern es sich bei der Marke um keine Fälschung handelt, arbeitete Neumann in Dresden für das K1. Das Dezernat war bekannt für delikate Einsatzgebiete, wie wir mittlerweile wissen. Republikflüchtlinge, politische Gegner und so weiter. Vielleicht ein Rachedelikt mit Bezug zu seiner DDR-Vergangenheit? Auf jeden Fall war bei der Ermordung des Mannes eine Menge Hass im Spiel«, fasste Hansen zusammen.
»Ein Motiv, das so weit zurückreichen könnte? Interessanter Ansatz. Wie wollt ihr weiter vorgehen?«
»Da uns die Kollegen in Dresden keine Akten von Herbert Neumann zur Verfügung stellen konnten, hat Stefan Kontakt zur Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen aufgenommen.«
»Da bin ich ja mal gespannt, ob der Mann in den Dokumenten auftaucht. Schließlich hat man kurz nach der Wende versucht, alles, was die DDR in schlechtem Licht dastehen lassen konnte, zu vernichten«, stellte der Kriminalrat fest.
»Wir werden sehen. Man bekommt langsam das Gefühl, dass sich Aachen zum Paradies für Mörder entwickelt. So viele Tötungsdelikte in letzter Zeit«, sagte Hansen und ließ einen Seufzer folgen.
»Das wollen wir doch nicht hoffen, Karl. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich habe gleich einen Termin.«
»Ein galanter Rausschmiss«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen und verließ das Büro des Kriminalrates. Auf dem Weg in sein Büro traf der Hauptkommissar auf seinen Kollegen Riedmann.
»Gibt es schon was Neues?«, fragte Hansen beiläufig.
»Nihil novi sub sole, leider nein«, antwortete sein Partner. »Bei dir?«
»Ebenfalls Fehlanzeige, du alter Lateiner! Ich war gerade bei Cäsar, äh Hellhausen, und habe ihm erzählt, was wir bislang herausgefunden haben.«
»Das wird ja ein kurzes Gespräch gewesen sein«, scherzte Riedmann.
»War es auch. Lass mich wissen, wenn dir die Informationen von der BStU vorliegen.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte sich Hansen um und ging zu seinem Büro. Noch bevor er die Tür öffnete, machte er kehrt in Richtung Kantine. Er hatte jetzt Lust auf einen Kaffee. Dort gab es wenigstens einen frisch aufgesetzten. Die Brühe aus dem Automaten mochte er gar nicht und trank sie nur, wenn er keine Zeit hatte, extra in die Kantine zu laufen. Wieder im Büro beschloss er, erst einmal im Internet die neusten Zeitungsartikel zur Ermordung von Herbert Neumann zu studieren. Dabei stellte er zufrieden fest, dass die Reporter mehr oder weniger die offizielle Version der Polizeipressestelle übernommen hatten, und zwar ohne weitere Spekulationen anzustellen. Schließlich begann er, seinen Tagesbericht vom Vortag zu schreiben. Er hasste diesen Teil seiner Arbeit. Hansen fasste die Ereignisse des Vortages anhand der Notizen, die er gemacht hatte, zusammen und listete die Namen und Adressen der Zeugen auf, die er gemeinsam mit Riedmann befragt hatte. Als er mit dem Bericht fertig war, fiel ihm ein, dass er umgehend noch etwas mit Laura Decker klären musste. Hansen wählte ihre Nummer und hatte die Kollegin direkt am Telefon.
»Hallo, Laura. Mir ist da etwas eingefallen, als ich den Tagesbericht geschrieben habe«, sagte Hansen.
»Ist das also doch für was gut?«, fragte Decker gewohnt flapsig zurück.
»Seid ihr euch eigentlich wirklich sicher, dass der Täter das Haus durch die Terrassentür in der Küche betreten hat? Wäre es nicht möglich, dass Neumann seinen Mörder selbst ins Haus gelassen hat? Soweit ich mich erinnere, war die Tür doch durch ein Sicherheitsschloss gesichert. Und eine Alarmanlage gab es auch.«
»Gut beobachtet, Karl. Aber wir haben keine Zweifel daran, dass sich der Täter mit einem speziellen Werkzeug, wie es auch Schlüsseldienste verwenden, Zutritt verschafft hat. Aber um das vorwegzunehmen, solche Tools, sogenannte Lock Pick Guns, kann sich heute jedes Kind im Internet bestellen. Ich befürchte, dass uns die Suche nach der Herkunft dieses Werkzeuges nicht sonderlich weiterbringt. Trotzdem sollten wir es natürlich versuchen. Das steht übrigens auch in meinem Bericht, den ich dir eben gemailt habe«, erklärte die KTU-Chefin.
»Den habe ich noch nicht gelesen. Ich war bis gerade mit meinem eigenen Bericht beschäftigt. Und was ist mit der Alarmanlage? War sie ausgeschaltet?«
»Das ist in der Tat eine gute Frage. Ich habe dazu bereits einen Bekannten von der RWTH konsultiert und er kam zu dem Schluss, dass die Anlage zwar eingeschaltet war, sie aber manipuliert wurde.«
»So etwas geht?«
»Wenn du das entsprechende Wissen hast, ja. Bei der Alarmanlage in Neumanns Haus handelt es sich um ein veraltetes System. Mein Bekannter vermutet, dass der Täter einen Störsender verwendet hat. Jammer nennt man die auch in Fachkreisen. Ebenfalls sehr beliebt bei Autodieben, die es auf Luxusautos abgesehen haben. Jedenfalls müssen wir uns das so vorstellen, dass mit einem solchen Gerät die Funkschärfungs- und Unschärfungsbefehle der Funkhandsender der Alarmanlage aufgezeichnet werden. Der Täter muss dieses Signal also irgendwann einmal aufgenommen haben, und zwar in dem Moment, als Neumann die Anlage mittels seiner Fernbedienung aktiviert hat. Der übermittelte Code ist nämlich immer derselbe. Vor dem Einbruch wird die Aufnahme mit dem Jammer abgespielt und schon ist das Sicherheitssystem abgeschaltet. Neue Anlagen verwenden verschiedene Codes. Beim Abspielen der aufgezeichneten Aufnahme stellt das System fest, dass der Code schon einmal verwendet wurde, und löst den Alarm aus. Was bei Neumann nicht der Fall war, weil die Anlage veraltet ist.«
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