„Unsere Träume und unsere Fantasie sind oft das Einzige, das uns vor den Grausamkeiten des Lebens bewahren. Kinder leben sorglos, weil sie Träumer sind. Erst ab dem Zeitpunkt, in dem wir aufhören zu träumen, verlieren wir uns in Problemen und fangen an, das Leben als Krankheit und nicht als das Wunderland anzusehen, das es eigentlich sein sollte“, erklärte sie ihm.
„Es ist besser, wenn die Kinder früh lernen, dass die Welt alles andere als ein Wunderland ist. Die Welt ist Korruption, Betrug, Arbeit und vor allem Geld. Man kann keine Prinzessin wie im Märchen oder Cowboy wie im Wilden Westen werden. Wir belügen sie, um ihnen nicht unverblümt ins Gesicht sagen zu müssen, dass die Welt kein Spielplatz, sondern ein Gefängnis ist“, erwiderte er verärgert. Bemitleidend sah Charlene ihn an.
„Und genau deswegen mache ich diesen Job und nicht sie“, sagte sie langsam und mit einer Ruhe, die mehr als beneidenswert war.
„Einen schönen Tag noch, Herr Doktor.“
Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück in das Gebäude der Kita. Kopfschüttelnd, aber trotzdem nachdenklich stieg Kris in das Auto und legte den Rucksack zu seinem Sohn auf den Rücksitz. Nachdem er mit gesenktem Kopf einige Sekunden seinen Sohn im Rückspiegel ansah, startete er den Motor und ließ den Wagen vom Parkplatz rollen.
Eilig riss Andre die Fahrertür des Rettungswagens auf und sprang auf den Sitz hinter das Lenkrad. Theo, ein noch relativ junger Rettungssanitäter, schwang sich ebenfalls in aller Eile auf den Platz neben ihn und legte sich innerhalb von zwei Sekunden den Sicherheitsgurt an. An diesem Abend hätte Andre lieber einen anderen Kollegen bei sich gehabt. Jemanden mit etwas mehr Erfahrung, dem nichts erklärt werden musste, der einfach, ohne zu fragen, handelte und somit auch das ein oder andere Leben retten konnte.
Doch heute sollte er derjenige sein, der Ton und Tempo vorgab. Es war nicht oft vorgekommen, dass er diese Verantwortung tragen musste. Zwar hatte er in seinem Metier immer eine gewisse Verantwortung, aber er fühlte sich wohler, wenn nicht er derjenige war, der Führungsqualität zeigen musste. 17 Jahre lang arbeitete er jetzt schon als Rettungssanitäter, und trotzdem hatte er in all diesen Jahren, weder im Beruf noch im Leben, gelernt, was es bedeutete, selbstständig zu sein.
Nachdem er im Alter von 17 seine Ausbildung zum Tischler abgebrochen hatte, war er viel in der Berufswelt herumgekommen und hatte sich nicht selten in einem gänzlich anderen Arbeitsbereich ausprobiert. Nach seiner kurzweiligen Beschäftigung als Azubi bei dem Tischler in seinem Wohnort hatte er sich als Koch in einem Vier-Sterne-Restaurant versuchen wollen, aber schlussendlich die Ausbildung abgebrochen, weil der Beruf ihm keinen Spaß und für die mangelnde Freude nicht genügend Geld einbrachte. Mit 22 hatte er es als Einzelhandelskaufmann versuchen wollen, aber sich nach den ersten praktischen Einheiten dagegen entschieden, da er sich nicht wichtig, beziehungsweise relevant genug gefühlt hatte. Auch mehrere Unterredungen mit seiner Mutter, bei der er nach wie vor wohnte, halfen nicht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Als Nächstes landete er über einen engen Freund von ihm bei der Werksfeuerwehr des hiesigen Mischkonzerns BOSCH, wo er zum ersten Mal etwas wie einen leichten Anflug von Zufriedenheit verspürte. Doch trotzdem verwarf er auch diese Idee wieder, da er sich in seinem zweiten Ausbildungsjahr mit seinem Ausbilder anlegte, weil dieser ihn als unreif und kindisch bezeichnete, als er herausfand, dass Andre immer noch zuhause wohnte. Aus diesem Grund quittierte er seine dort angefangene Ausbildung und fand mit 26 schließlich seine große Liebe zum Beruf des Rettungssanitäters. Der Beruf bot ihm sowohl das Gefühl, gebraucht zu werden, als auch den nötigen Thrill und die Spannung, die er bisher bei seinen vorigen Ausbildungen so unwissentlich vermisst hatte. Doch er war schon lange nicht mehr 26 und das machte ihm am meisten zu schaffen. Bis er einen festen Job fand, fühlte er sich immer noch wie ein wohlig behütetes Kind unter der Obhut seiner Mutter, das nie erwachsen werden und auf eigenen Beinen stehen musste. Er hatte seit seinen Zwanzigern keine Frau mehr, außer natürlich digital, ohne Oberteil gesehen, und das letzte Mal, dass er in einer Beziehung gewesen war, lag sogar noch einige Jahre weiter zurück. Eigentlich hatte er nie wirklich eine richtige Beziehung, die als solches bezeichnet werden konnte, gehabt. Jetzt war jede Chance auf eine Frau oder gar Kinder für ihn vertan. Jedenfalls machte sein ungepflegt aussehender Bart in Kombination mit seiner großmütterlichen Brille und seinem von Zeit zu Zeit größer werdenden Bierbauch keinen sonderlich ansehnlichen Eindruck. Zudem sah er noch gute acht bis zehn – wenn das Licht schlecht auf seine gekräuselten, hellen Haare fiel sogar fünfzehn – Jahre älter aus, als er eigentlich war, und auch der Zustand seiner übrig gebliebenen Gehirnzellen war mehr als fragwürdig.
Jedes Mal, wenn seine Mutter das Haus für einige Zeit verließ und ihn bat, die Wäsche zu waschen oder das Geschirr in den Geschirrspüler einzuräumen, grenzte es beinahe an ein Wunder, wenn er es tatsächlich ohne Schäden am Inventar geschafft hatte. Meistens allerdings verzweifelte er kläglich daran, und im Endeffekt blieb es immer wieder an seiner fast 70 Jahre alten Mutter hängen, die nur jedes Mal wieder den Kopf schütteln und in sich hineinseufzen konnte, dass er zwar ein lieber Junge wäre, aber eben auch nie ein Mann geworden sei. Er hingegen sah das selbstverständlich ganz anders. In seinen Augen war er ein erwachsener, selbstständiger, lediglich von allen missverstandener Mann, der wichtig und für die Welt unersetzlich ist.
Wenn man jedoch seinen Kollegen Glauben schenken mochte, dann konnte er froh sein, überhaupt diesen Job bekommen zu haben, und das auch nur, weil Rettungssanitäter so händeringend gesucht wurden. Doch dies war alles außerhalb seiner Wahrnehmung. Aus seinem Blickwinkel heraus war er nicht unnütz und lästig, sondern der gebrauchte Held. Nicht das Alter zeigte sich an ihm und er war keinesfalls unbeweglicher als früher, sondern sein Körper machte nur eine einstweilige Pause, von der er sich jederzeit wieder erholen könne. Er war nicht alleine und kindisch und Frauen widerten sich nicht vor ihm, sondern sie sahen nur, dass er zu gut für sei. Das war seine Sicht der Dinge, und sie war gut so. Für ihn jedenfalls. Es schadete nie, zufrieden mit seinem Leben zu sein. Und eben das war es, weswegen er trotz allem ein glücklicherer Mensch war, als die Meisten. Er wollte nicht viel und gab sich mit dem zufrieden, was das Leben ihm bot. Keine Sucht nach Erfolg, Sex oder der Ferne. Auch wenn es von außen nie so schien, war auch ein solches Leben es wert, akzeptiert und gewürdigt zu werden.
Hastig drehte Andre den Zündschlüssel herum und ließ den Motor aufjaulen. Er schaltete das Blaulicht mitsamt der Sirene ein und fuhr aus dem geöffneten Tor in die Richtung, aus der der Notruf abgesetzt wurde. Erst einige Stunden, nachdem der Einsatz vorbei war, wunderte er sich, dass er auch dieses Mal wieder aus Dulingen kam. In aller Eile stiegen die beiden aus dem Wagen aus und rannten zur Tür, an der bereits die vollkommen aufgescheuchte Frau Nitz wartete.
„Helfen Sie ihm! Helfen Sie meinem Jungen!“, kreischte sie in Tränen aufgelöst und zeigte zitternd auf die Treppe, die nach oben zu Eriks Zimmer führte. Ohne nachzufragen, rannten sie die Treppe hinauf und stürmten in das erste Zimmer auf der linken Seite des Flures. Eifrig kniete Andre sich neben das Bett, in dem, regungslos und friedlich wie ein Engel, Erik lag, und versuchte, ihn erfolglos anzusprechen, während Theo am Hals und wenige Sekunden später auch am Handgelenk des Jungen genauso erfolglos dessen Puls suchte. Einen Augenblick später legten die Rettungssanitäter das Kind unter den trauernden und schmerzerfüllten Blicken der Mutter auf den Holzboden und begannen, ihn zu reanimieren.
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