„Ganz ruhig Dominik, alles wird gut. Atme ruhig ein und wieder aus. Alles wird gut“, versuchte der andere, etwas jüngere Mann, ihn zu beschwichtigen und legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter.
„Du kannst mich mal mit deinem dämlichen ‚atme ein‘!“, entgegnete er aufgebracht und stieß seine Hand von sich weg. Einige der Kunden drehten sich neugierig und überrascht zu ihm herum und begannen leise zu tuscheln.
„Beruhigen Sie sich erstmal!“, brachte Frank die Debatte zum Schweigen. Melkovich stand teilnahmslos neben seinem Freund und starrte Löcher in die Luft. Jeder tat das, was er am besten konnte. Frank kümmerte sich um das Reden und Ivan stand daneben und setzte stumm seinen strengen und kontrollierenden Blick auf, der durch die scharfen Kanten seines Kiefers noch besser zur Geltung kam. In Szenarien wie diesen waren sie ein eingespieltes Team. In einem Verhör würde Frank die Rolle des sogenannten „Good Cop“ und Ivan die des „Bad Cop“ einnehmen. Zwar hatten sie noch nie eines geführt, da sie bloß Streifenpolizisten waren, aber auch so war die Verteilung dieser Rollen mehr als eindeutig zu erkennen.
„Was ist hier passiert?“, fuhr er fort, nachdem die beiden Männer verstummt waren und ihn kleinlaut ansahen. Wenn man ihr Alter miteinander addieren würde, wären sie wahrscheinlich immer noch jünger als ich, dachte Frank und stöhnte verzweifelt innerlich auf.
„Hier war ein Verrückter! Der muss geisteskrank gewesen sein! Wahrscheinlich schizogen oder so!“, ergriff der aufgewühlte Mann mit der Akne wieder das Wort und fuhr sich angestrengt durch seine kurzen, blonden Haare. Seine Stirn glänzte schwach von Schweißperlen und dem Licht der Deckenleuchten.
„Verzeihung?“, fragte Frank verwirrt und runzelte leicht genervt die Stirn. Er konnte es nicht leiden, wenn Jungspunde sich nicht vernünftig ausdrücken konnten. Nervosität hin oder her.
„Naja so schizogen halt. Wenn man anfängt mit sich selber zu reden oder so, was weiß ich“, erklärte er bruchstückhaft und zuckte unkontrolliert mit den Schultern.
„Sie meinen schizophren?“
In Gedenken an unsere Kollegen Herbert Plock & Sebastian Körtel, die ihr Leben zum Schutze anderer geopfert haben. Ruhet in Frieden, Männer.
„Ja, kann sein, aber wie auch immer. Der Kerl muss krank oder gestört gewesen sein. Wenn sie mich fragen wahrscheinlich sogar beides.“
„Ganz in Ruhe. Gehen wir den Vorfall der Reihe nach durch. Was genau ist passiert?“, wiederholte Frank mit einem Unterton, in dem so viel Hoffnungslosigkeit steckte wie nur möglich. Der Mann, dessen Name allem Anschein nach Dominik war, befolgte schlussendlich den Tipp, den ihm sein Kollege bereits vor einigen Minuten gegeben hatte und atmete ein paar Mal tief durch, bis er sich bereit fühlte zu erzählen, was passiert war.
„Ich war gerade dabei, das Regal mit den Wasserflaschen aufzufüllen, als ich sah, wie jemand versuchte die Tür zum Lager zu öffnen. Natürlich bin ich sofort hingegangen und habe ihn darauf hingewiesen, dass er dort nicht reindürfe, wenn er hier nicht arbeite. Auf einmal hat er sich umgedreht und gemeint, dass er hier arbeiten würde und bloß seinen Schlüssel verlegt hätte und ich ihm doch bitte meinen leihen solle. Natürlich hab ich ihm nicht geglaubt und verlangte, seinen Mitarbeiterausweis zu sehen. Ich weiß nicht wie und wann er ihn mir abgenommen hatte, aber auf einmal zeigte er mir meinen Ausweis vor und bat mich erneut nach dem Schlüssel für die Tür und auch für die Kasse. Er müsste noch ...“
Fragend sah Frank den Mann an. Er wollte nicht noch mehr Zeit hier verbringen als notwendig.
„Was müsste er noch?“
Unsicher und verlegen starrte Dominik auf die Fugen zwischen den Bodenfliesen und wischte sich mit einem angestrengten Schnaufen den Schweiß von der Stirn.
„Er müsste noch das Geld für die Sachen, die er sich beim letzten Mal aus dem Lager genommen hatte, bezahlen“, erzählte er mit wackeliger Stimme.
„Fehlt denn etwas aus dem Lager?“, mischte Ivan sich zum ersten Mal mit in das Gespräch mit ein und beäugte Dominik skeptisch. Das Zögern des jungen Supermarktmitarbeiters machte ihn misstrauisch. Hinter ihnen nahm eine Mutter ihrem kleinen Sohn einen Eimer mit Kirschtomaten aus der Hand und stellte ihn zurück auf den Tisch mit den regionalen Produkten.
„Die sind viel zu teuer“, meckerte sie ihr Kind an und nahm eine in Plastik eingeschweißte Verpackung mit Tomaten aus Spanien, die 20 Cent günstiger waren.
„Nein“, sagte Dominik eilig, was Ivans Misstrauen nicht besänftigte. Sein Tonfall klang nicht ehrlich, sondern vielmehr so, als wenn er etwas zu verbergen hätte, aber dies in seiner Aufregung nicht wirklich überzeugend rüberbringen konnte.
„Doch“, warf der andere Mitarbeiter neben ihm überrascht ein. Verwirrt sah Frank erst den nervösen Mann mit Akne, der mittlerweile einen hochroten Kopf bekommen hatte, dann den anderen Mitarbeiter neben ihm an, der seinen Kollegen ebenso verwirrt musterte.
„Also, was denn nun?“
„Seit ein paar Monaten fehlen immer wieder mal Gutscheine, Drogerieartikel und vereinzelte Lebensmittel, die aber in keinem der Kassensysteme als bezahlt aufgeführt werden“, berichtete er sachlich, ohne wie Dominik auszuschweifen oder emotional aufzudrehen.
„Weiß ihr Chef davon?“
„Ja, ich habe bereits vor zwei Monaten mit ihm darüber geredet, aber er meinte, dass es an den Kassen liegen könnte, wenn vereinzelte Artikel nicht in den Rechnungen auftauchen. Seitdem kontrollieren wir stärker, was gekauft wird, aber es verschwinden immer noch Sachen und die Überwachungskameras fallen ständig aus.“
„Hat diese Woche etwas gefehlt?“, fragte Frank weiter. Im Augenwinkel beobachtete er, wie Dominik immer kleiner und nervöser zu werden schien.
„Ja. Drei Gutscheine für Amazon im Wert von jeweils einhundert Euro und fünf Steam Karten im Wert von jeweils fünfzig Euro. Wir haben bereits einen Detektiv engagiert, der sich der Sache annimmt, aber auch der ist bisher zu keinem Ergebnis gelangt“, erzählte er und zuckte enttäuscht mit den Achseln.
„Und Sie wussten davon nichts Herr ...“
„Grüner“, antwortete er aufs Wort. Sein Gesicht hatte inzwischen dieselbe Farbe wie seine Pickel und strahlte eine abnormale Hitze ab. Nervös begann Dominik sich zu kratzen und wich den Blicken der beiden Beamten kontinuierlich aus.
„Herr Grüner“, begann Frank ernst und trat einen Schritt näher an ihn heran.
„Sie wussten also nichts davon, dass hier wöchentlich für den Verkauf bestimme Artikel aus dem Lager entwendet werden?“
„Naja was heißt nichts davon gewusst ... Ich war bei den letzten Meetings nicht immer dabei, verstehen Sie? Das letzte Mal, als ich da war ... Nun ja ...“, stammelte er verlegen und suchte Hilfe bei seinem Kollegen, der jedoch nicht im Ansatz auch nur daran dachte, ihm zur Hilfe zu springen.
„Herr ...?“, fragte Frank den anderen Supermarktmitarbeiter, ohne auf das Gestammel einzugehen, das Herr Grüner von sich gab.
„Bauermann.“
„Sagen Sie, Herr Bauermann, wann war ihr letztes Meeting?“, forderte er ihn auf und sah, wie in den Augen von Grüner vor ihm förmlich die Panik aufstieg.
„Lange ist das noch nicht her. Vor zwei Tagen erst hat uns der Filialleiter zu einer Besprechung wegen den Diebstählen zusammengerufen“, erzählte er gelassen. Respektvoll sah er dem Polizisten in die Augen und verschränkte, wie wenn er einem ranghöheren Offizier Bericht erstatten würde, die Arme hinter dem Rücken. Er hatte nach seinem Realschulabschluss einen 20-monatigen freiwilligen Wehrdienst absolviert und spielte gerne den respektvollen und gehorsamen Soldaten, wenn es ihm möglich war. Aus diesem Grund wurde er von vielen geschätzt, da sie es liebten, wie ein hohes Tier behandelt zu werden und aus eben diesem Grund wurde er auch von vielen mit rollenden Augen betrachtet, da sie sich von ihm zum Narren gehalten fühlten, wenn er sich auf diese Art und Weise begann aufzuplustern. Auch Frank fühlte sich leicht zum Narren gehalten, ignorierte dieses Gefühl jedoch bestmöglich, da er nicht davon ausging, dass der junge Mann es tatsächlich so meinte und stufte es, wie vieles andere auch, als jugendliches Übermaß an Motivation ein.
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