Maja Lunde - Über die Grenze

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Norwegen unter deutscher Besatzung 1942. Der zehnjährige Daniel und seine kleine Schwester Sarah sind Juden und müssen über die Grenze
nach Schweden fliehen, wo ihr Vater wartet. Doch die Fluchthelfer werden verhaftet, und zwei norwegische Kinder springen ein: die zehnjährige
Gerda, die gerade die «Die drei Musketiere» gelesen hat und zu jedem Abenteuer bereit ist – und ihr Bruder Otto. Es wird für die vier Kinder ein
Abenteuer auf Leben und Tod.
Maja Lunde stellt die vier Kinder lebendig und authentisch dar: in geschwisterlichem Streit, in Trotz, Leichtsinn, Spieltrieb und Abenteuerlust. In
beeindruckender Weise bringt sie so das wichtige Thema auch jüngeren Kindern nahe.

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Maja Lunde

Über die Grenze

Über die Grenze - изображение 1

Aus dem Norwegischen von

Antje Subey-Cramer

Mit Illustrationen von Regina Kehn

Über die Grenze - изображение 2

Dank an

Espen Torkildsen

Irene Levin

Mats Tangestuen

Inhalt

In Zuckereiern baden Norwegen, November 1942

Das beste Versteck

Ein Musketier im Keller

Ein merkwürdiges Mittagessen

Der Geisterjunge

Verstecken – aber nicht zum Spaß

Handschellen

Wilde Tiere

Daniel und Sarah

Dypvik

Der Plan

Ein ordentlicher Pfiff

Lebendige Koffer

Nette, böse Damen

Wild gewordene Sau

Das Lied von der Mann-Näherin

Der Sohn vom Faulpelz

Ein ganz normaler Abend

Mutig

Der Weg mag uns führen, wohin er will

Ein Befehl

Angezeigt

Wilhelmines Paradies

Das Bild, das nicht an seinem Platz hing

Allein im Wald

Hopp!

Dunkelheit und Schnee

Auf Leben und Tod

Einbruch

Die Nacht mit Schwarzblut

Der Dieb

Ziegenkäse

Der Eisbach

Der Soldat mit den braunen Augen

Über die Grenze

Wir kommen!

Die Autorin

Norwegen, November 1942

In Zuckereiern baden Gerda hast du schon wieder Zuckereier gemacht - фото 3

In Zuckereiern baden

»Gerda, hast du schon wieder Zuckereier gemacht?«, fragte Klara.

»Aber nein«, sagte ich.

»Die letzten Eier sind weg!«

»Ich habe sie jedenfalls nicht genommen.«

»Bist du dir da ganz sicher?« Sie warf mir einen langen Blick zu. Mir kamen die Tränen, während ich heftig nickte. Klara, unser Hausmädchen, war eigentlich immer auf meiner Seite. Wenn sie mir nicht glaubte, glaubte mir keiner. Zum Glück lächelte sie und kniff mich in die Nase. Das war ein gutes Zeichen. Dann sagte sie leise und mehr zu sich selbst: »Manchmal frage ich mich, ob wir die Einzigen in diesem Haus sind.«

Klara pflegte nicht zu klagen, aber in letzter Zeit hatte sie sich darüber beschwert, dass Lebensmittel verschwanden. Es lag nahe, mich zu beschuldigen, denn alle wussten, dass ich ständig Hunger hatte. Und es war ja auch schon passiert, dass ich Eier und Zucker gemopst hatte. Aber dieses Mal war ich es wirklich nicht gewesen.

Ich beugte mich über die Hausaufgaben, musste aber immerzu an die verschwundenen Lebensmittel denken. Gab es hier im Haus Mäuse? Oder waren es Menschen, die das Essen stahlen? Und warum mussten sie unbedingt unsere Lebensmittel futtern? Wir hatten im Moment doch wirklich nicht zu viel davon. Zum Beispiel bekamen wir fast nie mehr Ziegenkäse auf unser Brot. Es gab genug Kartoffeln und Hering, aber meinen Magen füllte das nicht. Jedenfalls nicht so wie Süßes. Sich vorzustellen, eine ganze Tüte Karamellen auf einmal essen zu können … Oder eine Kanne Schokoladensoße zu trinken. Oder – in Zuckerei zu baden! Mitten in einer riesigen Schüssel zu liegen und einfach alles aufzuschlecken. In all dem Weichen, Gelben herumzuschwimmen und außen und innen süß und klebrig zu werden. Und zu spüren, dass der Magen bis oben hin voll wurde. Das wäre wirklich was!

Aber nun fehlten also Eier, und deshalb würde es für mich kein Zuckerei geben. Nicht einmal ein kleines Schüsselchen. So war es im Krieg.

Ach ja, die Hausaufgaben. Mitten auf dem riesigen Blatt Papier standen einsam drei schrumpelige kleine Zahlen. Das sah kümmerlich aus, aber ich hatte keine weiteren Lösungen auf Lager. Außerdem war es ein Ding der Unmöglichkeit, zu rechnen, wenn man hungrig war, deshalb suchte ich stattdessen Otto, meinen großen Bruder. Er saß in unserem Zimmer im ersten Stock. Wir teilten es uns noch immer, obwohl Mama meinte, dass ich mit meinen zehn Jahren jetzt eigentlich zu groß geworden war, um mit einem Jungen im selben Zimmer zu schlafen. Was auch immer sie damit meinte.

Jeder hatte sein eigenes Bett und sein eigenes Pult. Ottos Pult war ständig aufgeräumt. Auf seinem Nachttisch stand ein Globus, der im Dunkeln leuchtete. Afrika leuchtete gelb und grün. Das Gelbe war die Wüste, und das Grüne war Dschungel, hatte Otto mir erklärt. Der Globus war das Schönste in unserem Zimmer.

Otto saß am Tisch und blätterte in seinem Atlas. Otto liebte Karten. Stundenlang träumte er von irgendwelchen Reisen, und er konnte sämtliche Namen aller Länder dieser Welt. Er war gut darin, Karten zu lesen und Hausaufgaben zu machen, aber das war’s dann auch schon.

Die Jungs in der Klasse nannten Otto Fischklops. Nicht, weil er dick gewesen wäre (er war nämlich dünn wie eine Fahnenstange), sondern weil er so schwach war. In den Armen hatte er nur Fischklopse. Um es mal so zu sagen: In seinem zwölfjährigen Leben hatte Otto bereits die eine oder andere Runde Armdrücken verloren. Nun hatte er keine Lust mehr auf Wettkämpfe – lieber saß er mit einem Buch vor der Nase da. So, wie er es jetzt auch tat. Alles, was ich von ihm sah, war das große Buch und Ottos Arme und Beine, die hervorschauten.

Mein Blick fiel auf unser Holzschwert, das auf dem Boden lag. Eigentlich gehörte es Otto, aber ich war es, die es am meisten benutzte. Fischklopse brauchen kein Schwert.

» En garde! «

Ich sprang auf ihn zu und begann zu fechten. Vielleicht wollte er heute mal mit mir spielen? Sehr oft hatte er nicht mehr Lust dazu.

Und wirklich: Er hob das Buch noch etwas weiter hoch.

Ich sprang ein Stück näher.

»Igitt! Eine Schlange!«

Er las weiter.

»Eine dicke, große Brillenschlange!«

Ich stieß mit der Schwertspitze gegen das Buch.

»Gerda! Hör auf damit!«

»Spielst du mit? Krieg oder so?«

Er ließ das Buch sinken und verdrehte hinter den Brillengläsern die Augen. Darin war er besonders gut. Er rollte sie einmal herum und zog seine Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch.

»Krieg ist kein Spiel.«

»Dann lieber Verstecken?«

»Das ist kindisch.«

»Ach, bitte! Was du willst. Du darfst bestimmen.«

»Vergiss es.« Er verkroch sich wieder hinter dem Buch.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als allein weiterzufechten.

Ich spielte, ich sei Porthos, einer der Musketiere. Er war der Lustigste. Ich hatte gerade Die drei Musketiere gelesen, und das war so spannend, dass ich ein Kribbeln im Bauch verspürte, wenn ich nur daran dachte. Die drei Musketiere und der Lehrling d’Artagnan kämpften mit dem Degen gegen verschiedene Banditen, brachten sie alle zur Strecke und retteten zum Schluss die Königin von Frankreich höchstpersönlich. Das war nach meinem Geschmack!

Ich fuchtelte mit dem Schwert herum.

Plötzlich kam mir Ottos Globus in die Quere. Er stand an der Kante des Nachttisches und begann zu wackeln.

Das war nicht gut.

Er würde herunterfallen, gar keine Frage.

Aber ich war schnell. Ich schoss nach vorne und griff nach dem Globus, kurz bevor er auf den Boden aufkam.

»Gerda, jetzt hör endlich auf!«

»Aber ich habe ihn doch gerettet!«

»Such dir etwas anderes zum Kaputtmachen!«

»Ach bitte, spiel mit mir Verstecken!«

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