„War Herr Grüner anwesend?“
Noch bevor Dominik empört und nervös zugleich widersprechen und die Antwort seines Arbeitskollegen abwürgen konnte, hatte dieser Franks Frage bereits mit einem Ja beantwortet.
„Es ist nicht, was Sie denken, Officer ... Sehen Sie, ich war abgelenkt und habe nicht mitbekommen, dass ...“, versuchte er sich eilig in seiner Panik zu erklären. In kleinen, feinen Tropfen lief ihm der Schweiß über die Falten seiner Stirn, und er suchte vergeblich mit seinen Augen nach Hilfe oder Nachsicht von einem der drei Männer um ihn herum.
„Sie werden mir jetzt genau zuhören, Herr Grüner, verstanden?“
„Aber ...“
„Haben Sie mich verstanden?“, wiederholte Frank und spielte seine ganze Autorität, die er ausstrahlte, mit Wirkung aus und Dominik nickte ihm schüchtern zu. Verzweifelt ließ er den Kopf hängen und trocknete seine Stirn mit dem Ärmel seines Poloshirts.
„Erst einmal würde ich Sie bitten, den Blödsinn, mich Officer zu nennen, zu unterlassen. Wir sind in Deutschland und nicht in irgendeiner mittelklassigen amerikanischen Actionserie, kapiert? Sie werden mir jetzt eine Beschreibung des Mannes geben, der Ihnen neben ihrem Ausweis noch den Schlüssel abnehmen wollte, und dann werden mein Kollege und ich Sie zu ihrem Chef begleiten und eine Anzeige gegen Sie wegen Diebstahl aufnehmen. Sind Sie damit einverstanden?“, sagte Frank eiskalt.
Dominik öffnete den Mund, um sich ein letztes Mal kläglich und erfolglos verteidigen zu wollen, schloss ihn jedoch sofort wieder, als er die ernsten, fixierten Blicke der Polizisten sah und nickte ein weiteres Mal schwach.
„Gut“, sagte Frank, nahm einen kleinen Notizblock samt Stift aus seiner Jacke und machte sich bereit zu notieren, was Herr Grüner über den Mann zu erzählen hatte.
„Also? Wie sah der Mann aus?“, fragte er sichtlich entspannter und ließ die Mine des Kugelschreibers herausschnellen.
„Es war ein alter Mann. Um die 80, würde ich schätzen, und sein Gesicht war voller Falten“, erzählte er.
Auch er wirkte etwas entspannter. Vermutlich kam seine Gelassenheit daher, dass die seelische Last, die dieses Geheimnis mit sich gezogen hatte, nun von ihm abgefallen war und sein Gewissen glatt einen Zentner an Gewicht verloren hatte.
„Irgendwelche Auffälligkeiten? Merkmale, an denen man ihn identifizieren könnte?“
Frank begrüßte die neu gewonnene Leichtigkeit des Mannes sehr. Es ersparte ihm viel Mühe, dass er die Sachen nun nicht mehr aus ihm herausquetschen musste, sondern er sie bereitwillig zugab und endlich seine Aussagen wegen des „Verrückten“, wie er ihn bezeichnet hatte, tätigen konnte.
„Seine Augen. Die waren gelb“, erzählte er.
„Wahrscheinlich jemand mit Leberproblemen“, murmelte Frank und warf einen Blick zu Ivan hinüber, der sich etwas weiter links positioniert hatte, um den jungen Mitarbeiter notfalls aufhalten zu können, wenn er an Frank vorbeilaufen wollen würde, um zu fliehen.
„Nicht so gelbe Augen“, warf Dominik ein.
„Wie meinen Sie das?“
„Seine Augen waren nicht gelb wie bei einer Krankheit, sondern das Innere. Dies hier“, erzählte er und zeigte auf die Iris seines rechten Auges. Wahrscheinlich gelbe Kontaktlinsen, kritzelte er in seiner unsauberen Schreibschrift auf den Block.
„Gibt es noch etwas Auffälliges, das Sie uns über ihn sagen können? War er irgendwie auffällig gekleidet?“
„Das kann man so sagen“, sagte Dominik und lächelte nervös.
„Was genau an seiner Kleidung war für Sie besonders auffällig?“, fragte Frank und sah erwartungsvoll in das von Pickeln und Mitessern übersäte Gesicht des jungen Mannes.
„Nun ja ...“ Verlegen kratze er sich am Hinterkopf und sah die beiden Polizisten abwechselnd an, als ob er bereits wissen würde, dass sie ihm ohnehin nicht glauben würden.
„Er trug einen Schlafanzug.“
Unsicher warf Kris einen letzten Blick auf den Bildschirm, ehe er den Computer auf seinem Schreibtisch herunterfuhr. Marion war vor einer halben Stunde gegangen und hatte ihn mit seiner Arbeit am Rechner alleine gelassen. Sein letzter Patient, ein Junge namens Erik Nitz, war vor einer Stunde gegangen. Er hatte sich wegen ein paar Prellungen, von denen er partout nicht erzählen wollte, woher er sie hatte, eine Salbe und ein schwaches Schmerzmittel aufschreiben lassen. Das Schmerzmittel hatte Kris ihm erst nach einiger Überlegung verschrieben, denn schließlich wäre jedes Medikament, das nicht zwingend nötig sei, im Endeffekt schädlicher, als wenn man einfach die Zähne zusammenbeißen und keine Mimose abgeben würde. Doch nachdem Erik demonstrierte, dass er vor Schmerzen nicht mehr in der Lage war, seinen linken Arm vollständig auszustrecken, hatte Kris sich schlussendlich dazu durchgerungen, ihm eine Packung Ibuprofen 200 mg aufzuschreiben.
Es war bereits das zweite Mal diesen Monat, dass der Junge mit Prellungen und teilweise schlimm aussehenden Blutergüssen zu ihm gekommen war. Rechtlich gesehen dürfte er in diesem Fall seine Schweigepflicht brechen, um dem Jugendamt eine begründete Vermutung vorzulegen. Doch er hatte weder handfeste Beweise dafür, dass der Junge zuhause geschlagen wurde, noch wollte Erik darüber reden, was der wirkliche Grund für seine Verletzungen war. Zumindest waren seine bisherigen Erklärungen immer ziemlich unstimmig und passten nicht in das Gesamtbild. Das musste zwar nicht zwangsläufig bedeuten, dass seine Aussagen falsch waren und er ihn anlog. Allerdings war es mehr als merkwürdig, dass er sich beim Fußballtraining verletzt hätte, wenn er eine schwere Prellung am Arm hatte, wegen der er diesen nicht vollständig nutzen konnte. Ebenso seine Erklärung am Anfang des Monats, als er Kris gesagt hatte, dass er die Leiter, die zum Dachboden führte, hinuntergefallen war, obwohl diese schon längst nicht mehr existierte. Harald, Eriks Vater, war Anfang des Jahres in seiner Praxis gewesen und hatte sich beim Ausmisten des Dachbodens den Arm gebrochen, da er von jener Leiter gestürzt war. Wutentbrannt, aber in angemessener Lautstärke, hatte er ihm erzählt, dass er das „Scheißding“ abbauen und auf den Schrott schmeißen würde, wenn da oben alles ausgeräumt wäre. Nach dem, was seine Patienten ihm erzählt hatten, lag die Leiter einen Monat später tatsächlich als Sperrmüll auf dem Bürgersteig und wartete darauf, abgeholt zu werden. Wirklich glaubhaft erschienen seine Begründungen folglich nicht, aber was sollte er machen? Es war nicht seine Entscheidung, dass er nichts tun konnte, was dem Jungen in irgendeiner Weise helfen würde. Aber wer entschied so etwas schon? Der Staat? Wohl kaum. Das Schicksal? Eher nicht. Gott? Vermutlich weniger. Vielleicht war es nicht wirklich sinnvoll, in dieser Sache einen Schuldigen ausfindig machen zu wollen. Es war ja doch bloß vergebene Liebesmüh, und ohnehin war die Frage nach der Schuld etwas, das Philosophen und andere Theoretiker, die mit ihrer „Arbeit“ gerne den Sauerstoff anderer aufbrauchten, diskutieren sollten. Es war nicht seine Aufgabe, sich mit derartigen Dingen auseinanderzusetzen und er wollt es auch gar nicht. Also schwieg er.
Die Realität war der Arbeitsbereich von Lehrern, Ärzten und Handwerkern. Philosophen, Schriftsteller und Künstler hingegen haben keinen Arbeitsbereich. Sie haben einen Spielplatz, gegründet von den Gebrüdern Fantasie und Gedankenspiel, auf dem sie sich, ohne müde zu werden, austoben können. Sie sind wie die verlorenen Kinder in Peter Pan, die nie erwachsen werden und sich dem Ernst des Lebens und der Härte der Realität in ihrer eigenen Welt nie ausgesetzt sehen. Manchmal erwischte Kris sich selbst dabei, wie er in Gedanken schwebte und sich selbst gerne für nur eine Sekunde auf diesem Spielplatz verlieren wollen würde, ehe er wieder mit dem Kopf in der Realität ankam und sich seiner Verantwortung und seines Berufes bewusst wurde. Er hatte keine Zeit, sich mit dem Surrealen und anderen Märchen aus nie existierenden Traumwelten auseinanderzusetzen. Fantasie war etwas für Träumer, Nichtsnutze, Bettler und Kinder. Nichts für jemanden mit seiner Bildung und seines Standes, wie es ihm immer wieder von seinem Vater eingebläut worden war.
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