Ein lautes Schnauben lenkte Janes Aufmerksamkeit auf den Tiefhof – und ließ sie regelrecht erstarren. Zwei Kutschengespanne warteten im Schatten der hohen Mauern auf sie. Das erste saß auf acht riesigen, stählernen Rädern, war groß wie ein Haus. Die Kutsche bestand sogar aus zwei Stockwerken mitsamt Dach und Schornstein. Von oben bis unten nachtschwarz angestrichen wurde dieses rollende Haus von vier gewaltigen Geschöpfen gezogen. Jane erinnerten sie an gigantische, vorgeschichtliche Nashörner, jedes mit einer Schulterhöhe von mehr als drei Metern. Anstelle eines einzelnen langen Horns wuchsen diesen Ungeheuern gleich drei auf ihren massigen, plumpen Schädeln, jedes so lang und schmal wie ein Schwert. Die gewaltigen Körper der kurzbeinigen Kreaturen waren von einem dicken, braunen Zottelfell bedeckt. Wie die Wollnashörner der Eiszeit , dachte Jane. Vielleicht waren das ihre Nachfahren? Elderwelt war ja voll mit den seltsamsten Kreaturen.
Das zweite Gespann nahm sich dagegen fast zwergenhaft klein aus: Eine schwarze Postkutsche, gezogen von einem alten, grauen Fenriswolf. Jane kannte diese Bestien nur zu gut. Mit immerhin zwei Metern Schulterhöhe und fünf Metern Länge waren auch die Fenriswölfe wahre Ungeheuer. Diese Monstren hatten Zähne, auf die jeder Wolf neidisch wäre. Die kleinen, runden Ohren, ähnlich denen von Bären, und der dicke, kurze Schwanz waren charakteristische Merkmale, ebenso die zu Krallen verlängerten Zehenhufe. Veyron hielt die Fenriswölfe für die letzten Vertreter der ausgestorbenen Raubtiergattung der Mesonychiden, aber für Jane waren es schlichtweg Scheusale, und wenn sie sich richtig erinnerte, dienten sie gemeinhin als Reittiere der Schrate. Es gefiel ihr gar nicht, dass die Seelenkönigin ebenfalls eines dieser Ungeheuer domestiziert hatte. Das verriet ihr nur, auf welcher Seite diese Hexe in Wahrheit stand.
Voller Skepsis folgte Jane Veyron zum kleineren der beiden Gefährte und stieg ein. Einen Kutscher gab es nicht; der Fenriswolf wurde von der Seelenkönigin offensichtlich telepathisch gesteuert, ebenso ihre vier Wollnashörner. Das Innere der schwarzen Postkutsche erwies sich als eng und unbequem. Getrennt von einem Tisch saßen sich Jane und Veyron gegenüber, hinter den Rückenlehnen ihrer Sitzbänke befanden sich kleine Schlafkojen. Na gut, besser als gar kein Bett. In ihrem fahrenden Haus hatte die Seelenkönigin dagegen bestimmt ein eigenes Schlafzimmer. Missmutig setzte sich Jane auf das schwarze Leder der Bank. »Wo geht’s denn überhaupt hin? Wissen Sie das zufällig?«, fragte sie Veyron.
»Nach Teyrnas Annoth , ins Reich der Moorelben, Jane Willkins«, antwortete stattdessen die Seelenkönigin. Sie stand in der Tür der Postkutsche. »Wir fahren nach Süden, immer nach Süden. Nördlich der Himmelmauerberge liegt ihr Reich, und dort findet die Konferenz der Könige statt. Es ist eine Reise von vier Tagen.«
»Interessant«, meinte Veyron nur.
Die Seelenkönigin sagte nichts darauf, verschwand nach draußen und schloss die Tür.
Jane wandte sich neugierig an Veyron. »Das Reich der Moorelben. Davon habe ich noch nie gehört. Ich dachte, das einzige Elbenreich wäre Fabrillian«, sagte sie.
Veyron schüttelte den Kopf. »Mitnichten. Teyrnas Annoth liegt im Norden von Fabrillian – mit den Himmelmauerbergen als natürliche, schier unüberwindbare Grenze dazwischen. Aber soweit ich es in verschiedenen Büchern lesen konnte, gilt das Land der Moorelben als von allen Seiten unzugänglich, das besagt auch schon sein elbischer Name. Teyrnas steht für Reich, im Sinne von Gegend, und Annoth bedeutet unzugänglich. Soweit ich informiert bin, meiden die Moorelben den Kontakt zu anderen Völkern, wo es nur geht, und bewachen ihre Grenzen entsprechend streng. Interessant ist, dass sie jetzt, nach tausendjähriger Isolation, ihr Gebiet für eine Konferenz der Herrscher Elderwelts zur Verfügung stellen. Womöglich gaben sie entsprechenden Bitten der Simanui nach. Ich bin sicher, das erfahren wir alles noch.«
Ein Ruckeln verriet, dass sich ihre Kutsche in Bewegung setzte. Bald ließen sie die finstere Burg und das triste Dorf hinter sich. Das Domizil der Seelenkönigin verschwand im Nebel, und recht viel mehr bekamen sie von Ansmacht auch nicht zu Gesicht. Der Nebel schien fast allgegenwärtig, nur hin und wieder schälte sich ein Gehöft aus dem grauen Dunst. Ansonsten sahen sie nur einige karge Felder und hier und da ein paar Bäume. Veyron hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Wahrscheinlich meditierte er mal wieder.
Da fiel Jane noch etwas ein. »Haben Sie schon Toms Nachrichten gelesen?«
»Nein«, gab Veyron unumwunden zu, ohne dabei die Augen zu öffnen.
»Was? Sind Sie verrückt geworden? Tom ist Ihr Patensohn! Sie haben sich um ihn zu kümmern!«, schalt sie ihn.
Zur Antwort bekam sie ein genervtes Schnauben. »Das ist im Augenblick schwer möglich, Willkins. Wir sind in Elderwelt, Tom in London. Der Junge ist siebzehn Jahre alt. Ich bin überzeugt, dass er auch eine Weile ohne mich klarkommt. Ich mache mir da keine Sorgen.«
Jane fröstelte angesichts des Mangels an Emotion in seiner Stimme. »Das sollten Sie aber«, hielt sie dagegen. »Er erwähnte etwas vom Schwarzen Manifest. Das ist doch das Teufelsbuch, das dieser irre Henry Fowler als Anleitung für seine Morde benutzt hat. Und die Zaltianna Trading Company hat Tom auch erwähnt. Sie sollten das unbedingt wissen, hat er geschrieben. Ach ja, er hat außerdem Ihren Bruder ausfindig gemacht, und die beiden haben irgendetwas vor.«
Veyron blieb immer noch ganz gelassen. »Was das Schwarze Manifest betrifft, stimme ich Ihnen zu, Willkins. Tom und ich wollten dieser Sache noch nachgehen. Sie kennen ihn ja. Wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht mehr zu halten. Ich bin davon überzeugt, dass er Nachforschungen angestellt und herausgefunden hat, dass die ZTC hinter dem Schwarzen Manifest steckt. Zu dieser Überzeugung bin ich im Übrigen ebenfalls gelangt. Die ZTC ist die Verbindungsstelle zwischen allen Machenschaften des Dunklen Meisters auf unserer Seite der Welt und hier in Elderwelt. Es ist nur logisch, dass Tom die Hilfe meines Bruders in Anspruch nahm, um mehr darüber herauszufinden Wimille ist ein Genie, der vielleicht größte Hacker, den die Erde je gesehen hat und jemals sehen wird.«
Jane wusste darauf nicht viel zu erwidern. Alles, was Veyron sagte, machte irgendwie Sinn. Wenn sie ihm so zuhörte, kam sie sich fast dumm vor, sich überhaupt Sorgen zu machen, aber ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes. »Mir gefällt das Ganze nicht, Veyron«, raunte sie.
Veyron schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, wenngleich es auch nur eine Sekunde hielt. »Machen Sie sich keine Sorgen, Willkins. Tom ist vernünftig genug, nichts gegen die ZTC oder das Schwarze Manifest zu unternehmen, bis ich wieder zurück bin. Was Wimille betrifft: Er mag zwar ein Genie sein, aber es gibt kaum etwas, das ihn dazu bewegen könnte, das Haus zu verlassen. Außerdem ist er ein Feigling. Niemals würde er sich in irgendein Abenteuer stürzen.«
Die Reise durch Ansmacht verlief vollkommen ereignislos. Menschen begegneten ihnen nicht, auch wenn sie hin und wieder an einem Dorf oder einem Bauernhof vorbeikamen. Nur einmal konnte Jane ein paar Kinder am Straßenrand stehen sehen, die ihre Hände zu kleinen Schalen aneinandergelegt hatten – sie bettelten. Aber als sie die riesige schwarze Kutsche der Seelenkönigin erkannten, nahmen sie auf der Stelle Reißaus. Egal, was Veyron sagte, es war falsch, sich mit dieser Despotin einzulassen. Für ihn mochte der Zweck vielleicht die Mittel heiligen, aber nicht für Jane. Wenn sie eine Gelegenheit bekäme, der Seelenkönigin irgendwie zu schaden, sie würde sie sofort ergreifen.
Die Stunden der Reise vergingen überraschend schnell. Veyron zeigte sich zu Janes Erstaunen recht gesprächig, auch wenn er von sich selbst nicht viel erzählte. Durch geschickte Fragen brachte er sie jedoch dazu, nahezu pausenlos zu plappern. Sie wusste am Ende gar nicht mehr, über was sie alles gesprochen hatten: über ihre Arbeit beim CID, was sie von dem einen oder anderen Kollegen hielt, wie es war, mit Inspektor Gregson in einem Team zu arbeiten … Jane berichtete von einigen haarsträubenden Fällen, die sie gelöst hatte, etwa dem, als sie mit Sergeant Palmer den Mörder von Mr. Vincent gejagt hatte. »Stellen Sie sich vor, wie dumm Palmer aus der Wäsche schaute, als der Mann, den wir verhafteten, sich als das vermeintliche Opfer, Mr. Vincent, entpuppte! Das war natürlich oberpeinlich, und alle auf dem Revier lachten Palmer aus. Aber Sie wissen ja selbst, was für ein Idiot er ist«, meinte sie und musste selbst darüber lachen.
Читать дальше