Jane verzog das Gesicht. Sie war wirklich nicht in der Stimmung, sich von ihm aufziehen zu lassen. »Sie sind genau wie dieses Land: karg und kalt«, murrte sie. »Wie kann man sich nur mit diesem Weibsbild einlassen? Sie ist ein Teufel!«
Veyron seufzte enttäuscht. »Ihr Weitblick ähnelt dagegen der Sichtweite in diesem Nebel. Erkennen Sie denn nicht die Vorteile, die uns diese Mission bietet? Wir haben hier die einzigartige Chance, mehr über die Schatten zu lernen als jemals irgendjemand zuvor. Dieses Wissen könnte uns später beim Kampf gegen den Dunklen Meister von immensem Wert sein.«
Jane schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dieses Miststück hat Sie verhext. Veyron, Sie haben Ihren Verstand verloren!«
Einen Moment lang erwiderte er nichts darauf, sondern blickte hinunter auf das Dorf, als hätte er sie gar nicht gehört. »Sehen Sie den Marktplatz? Da ist eine alte Händlerin, die gerade einem Mann etwas verkauft. Was schlussfolgern Sie, wenn Sie ihn betrachten?«, fragte er sie, statt auf ihren Vorwurf einzugehen.
Jane folgte seinem Fingerzeig. Da war tatsächlich eine alte Händlerin, die einem für Ansmachts Verhältnisse gut gekleideten Herrn ein paar Dinge verkaufte. Ein kleiner Junge stand neben dem Mann und tippelte unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Der Mann hat etwas gekauft. Spielzeug. Der Junge ist wahrscheinlich sein Sohn. Der Mann scheint recht gut betucht zu sein, wenn man seine Kleidung mit der aller anderen vergleicht. Die vielen Beutel an seinem Gürtel, hmm … bestimmt ist er ein reicher Kaufmann. Und er stützt sich auf einen Stock, hat also Schmerzen im Kreuz oder beim Gehen. Sehen Sie? Leute analysieren kann jeder, wenn man nur genau hinschaut.«
»Dann schauen Sie auch genau hin, Willkins«, konterte Veyron sofort. »Der Mann ist ein sehr angesehener Arzt und bekannt für seine Selbstlosigkeit. Obendrein ist er nicht nur Vater dieses Jungen, sondern auch noch eines Mädchens. Seine Frau ist schwanger, und er ist stolzer Besitzer eines kleinen, verspielten Hundes. Trotzdem ist er alles andere als reich und leidet den gleichen Hunger wie die meisten Einwohner hier. Körperliche Gebrechen weist er dagegen keine auf, weder am Bein noch an der Hüfte. Dafür aber eine Verletzung an der rechten Hand.«
Jane stand für einen Moment der Mund offen. Sie schaute noch einmal hinunter zu den drei Menschen und versuchte zu erkennen, was Veyron zu diesen Schlüssen brachte. Sie fand jedoch nichts, abgesehen von dem kleinen Verband an der rechten Hand. Der war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Okay, aber das war ja nur eine Kleinigkeit. Und überhaupt: Woher wollte Veyron wissen, dass der Mann einen Hund besaß? Geschweige denn Vater eines Mädchens war!
»Ich kann da nichts erkennen«, schnappte sie. »Ich sag’s doch: Ihr Verstand arbeitet nicht mehr richtig.«
»Schauen Sie sich seine Hände genauer an. Feindgliedrig, keine Schwielen. Er arbeitet demnach nicht hart, kann also unmöglich Bauer, Metzger oder Schmied sein. Dafür hängen an seinem Gürtel eine Menge Beutel und Taschen, darunter eine zusammengerollte Instrumententasche aus Leder. Sehen Sie die silbernen Spitzen seiner Instrumente und Skalpelle und den runden Abdruck einer Lupe? Das deutet doch schon sehr auf eine medizinische Tätigkeit hin. Wir haben also den Dorfarzt vor uns. Seine feine Kleidung zeigt an, wie sehr er von den Bürgern geschätzt wird. Es sind wahrscheinlich Geschenke, die ihm gemacht wurden, denn reich ist er nicht. Das verraten mir seine schlechten, ausgelatschten, dutzendfach geflickten Schuhe. Seinen unterernährten Zustand erkennen Sie dagegen an seinen eingefallenen Wangen, den schlecht verheilten Kratzern auf der Haut und der kaum ausgeprägten Muskulatur. Nun zu seinem Stock: Der ist lediglich ein Symbol seines Amtes, keine Stütze. Schauen Sie nur die Verzierungen an: Die Äskulapschlange ist deutlich am oberen Ende zu sehen. In der Mitte erkennen Sie Bissspuren eines Hundes, sehr fein, aber dennoch zahlreich. Also ist der Hund klein und trägt den Stock beim Spaziergang im Maul, weswegen unser Arzt den Stock also nicht wirklich benötigt. Beachten Sie zudem die von ihm erworbenen Dinge: eine Mädchenpuppe aus Reisig und ein Holzpferd samt Ritterfigur. Spielsachen für einen Jungen und ein Mädchen.
Unser Arzt hat bei der Händlerin außerdem Frauenmantel, Brennnessel und Fenchel gekauft, typische Kräuter, die für verschiedene Schwangerschaftstees gebraucht werden. Die gekauften Mengen sind jedoch sehr gering, darum wird es wohl kaum für seine Praxis sein, sondern für den Eigenbedarf. Da hier sehr viele Kinder herumlaufen, ist die Population in Ansmacht trotz der widrigen Umstände gesund, und Schwangerschaften sind nichts Seltenes. Für die Behandlung von allen schwangeren Patienten des Dorfs bräuchte er also eine weitaus größere Menge dieser Kräuter. Einzige logische Schlussfolgerung: Seine eigene Frau ist schwanger, und uneigennützig, wie er ist, will er den Praxisvorrat – der genau berechnet ist – dafür nicht verwenden. Sehen Sie? Mein Verstand funktioniert tadellos.«
»Nein, tut er nicht«, maulte Jane. »Tut er nämlich nie.«
Veyron brach in Gelächter aus, ein ehrliches, herzliches Lachen. »Ja«, sagte er und grinste Jane dabei an. »Es war die richtige Idee, Sie mit auf dieses Abenteuer zu nehmen.« Dann wurde er wieder ernst. »Bitte haben Sie Vertrauen, Willkins. Ich weiß sehr wohl, wo die Grenzen sind, und ich verspreche Ihnen, was wir hier tun, gereicht dem Dunklen Meister zum Schaden und damit auch der Sache des Bösen. Meine Methoden mögen ungewöhnlich sein, aber unsere Ziele, Willkins, sind identisch.«
»Ich vertrau Ihnen ja«, bekräftigte Jane. »Aber deshalb muss ich nicht mit allem einverstanden sein.«
Veyron lächelte vielsagend. »Nein, das müssen Sie nicht und das sollen Sie auch gar nicht. Sie und ich, wir zwei sind vollkommen verschieden. Genau darin liegt unsere Stärke als Team. Wir ergänzen uns, aber nur, wenn wir einander vertrauen.«
»Da haben Sie recht«, sagte Jane. »Und wie geht’s jetzt weiter?«
Die Frage blieb unbeantwortet. Bevor Veyron irgendetwas sagen konnte, wurden sie von hinten angerufen.
Jane sah sich um. Uric und Femoin standen da und wirkten genauso eingeschüchtert wie gestern. Als sie die Kinder erreicht hatten, blickten die sich um, als befürchteten sie, beobachtet zu werden. Jane erkannte darin sofort, dass sie neben ihrem eigenen Verstand dem dunklen Gedankeneinfluss der Seelenkönigin ausgesetzt waren.
»Die Herrin schickt uns«, verkündete Femoin. »Sie befiehlt, dass Ihr beide sofort auf Eure Zimmer zurückkehrt und Eure Sachen packt. Die Königin wünscht so schnell wie möglich aufzubrechen.«
»Und sagt Eure Gebieterin auch, wohin?«, ätzte Jane. Sie meinte es nicht bös mit den beiden Sklaven, aber sie war sicher, dass die Seelenkönigin ihre Gedanken las, und das böse Weib sollte Janes Abneigung ruhig zu spüren bekommen.
»Natürlich zum Konferenzort, was für eine Frage«, mischte sich Veyron ein. Er nahm Jane am Arm und führte sie von den beiden Sklaven fort. Wenigstens sparte er sich, sie für ihre ›Dummheit‹ – woher hätte sie es wissen sollen? – vor den beiden zu tadeln, aber sie spürte es am sanften Druck, den er auf ihren Oberarm ausübte.
Bald hatten sie ihre Räume erreicht. Viel zusammenpacken musste Jane nicht. Sie brauchte lediglich ihren Rucksack zu schultern und das Feuerzeug wieder einzustecken. Eine große Erleichterung überkam sie, als sie einen letzten Blick in das karge Zimmer warf. Niemals wieder würde sie hierher zurückkehren, das nahm sie sich felsenfest vor. Hoffentlich würden sie bald auch aus dem Einflussbereich der Seelenkönigin herauskommen.
Wenig später traf sie Veyron wieder unten im Burghof, wo die beiden Sklaven schon auf sie warteten und sie nach einer kurzen Verbeugung zu der langen, von nacktem Fels gesäumten Treppe führten, die in den zweiten, tiefer gelegenen, mit einer hohen, dicken Mauer eingefriedeten Hof mündete. Er war breit und gepflastert, und von ihm aus gelangte man durch ein Tor zum Dorf hinaus. Erst, als sie sich auf der Treppe umwandte, konnte Jane besser erkennen, wie man die Burg der Seelenkönigin auf den Gipfel des hoch aufregenden Felsen gesetzt hatte. Der vermeintliche Schutzwall rund um die Burg war nichts anderes als die Verschalung des Felsens und zugleich Stützwerk für die obere Plattform und die Wohngebäude.
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