Als Byron durch das angelehnte, doppelflüglige Tor in den hellen, kurzen Stall eintrat, bemerkte er zu allererst den großen, feurigen Rapphengst seines Vaters, der mitten in der Gasse, zwischen den Verschlägen, an einem der Stützpfosten des Daches angebunden stand. Hinter dem Jungen, aus einer der Pferdeboxen, erklang plötzlich das Rascheln von Stroh und Schritte. Byron fuhr herum.
„Na, auch schon wach!“ Lachend wandte sein Vater sich ihm zu, einen Hammer in der Hand und jetzt konnte Byron auch den Grund für die morgendliche Unruhe entdecken: Black Pearl musste über Nacht einige Bretter seines Verschlags weggetreten und sich dabei verletzt haben, denn in diesem Augenblick kam seine Mutter aus der Sattelkammer, den Verbandskasten in der Hand.
„Wo ist deine Jacke? Willst du dir den Tod holen?“, herrschte sie ihn mit strenger Miene an.
„Oh!“, machte Byron verlegen. „Hab’ ich ganz vergessen!“
„Dann sieh zu, dass du wieder ins Haus kommst“, befahl Fey McCullough streng und beugte sich mit vielsagendem Blick über die klaffende Wunde an der Flanke des schwarz-blau glänzenden, edlen Pferdes. „Und auf dem Weg dorthin kannst du gleich Jon Bescheid geben, dass er herkommen und deinem Vater zur Hand gehen soll!“
Byron nickte ergeben. Die lauten Hammerschläge hinderten ihn daran, etwas zu erwidern. Sein Vater fuhr fort, die zerborstenen Bretter notdürftig zu flicken.
„Das muss vorerst genügen. Morgen soll einer der Männer es anständig reparieren.“ Harold McCullough runzelte die Stirn, als er seinen Erstgeborenen noch immer wie hypnotisiert dastehen und glotzen sah. „Was ist, Junge? Hast du nicht gehört, was deine Mutter gesagt hat?“
„Ja, doch, schon“, beeilte Byron sich einzuwerfen und trat zwei Schritte zurück. Er kannte die schnelle Hand seines Vaters nur zu gut. „Soll ich die anderen wecken?“
„Nein“, entschied Fey auf ihre bestimmte, eigensinnige Art und schüttelte den Kopf. Ihr dunkelblondes, langes Haar fiel über die Schultern nach vorn; sie streifte es genervt zurück. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, niemals ungekämmt am Frühstückstisch zu erscheinen, schien sie heute noch keine Zeit dazu gefunden zu haben.
„Nein?“, wiederholte Byron, ein wenig ungläubig.
„Nein!“, sagte seine Mutter noch einmal, diesmal ungeduldig. „Wir gehen heute nicht zur Kirche! Ich wüsste auch gar nicht, wie wir dort hinkommen sollten! Bei diesem Schnee kommen wir mit dem alten Klapperwagen gar nicht durch!“
„Oh ja, gut!“ Byron konnte nicht verhindern, grinsen zu müssen. Keine Kirche! Wie herrlich! Und das bei diesem Neuschnee! Da wusste er viel Besseres mit seiner freien Zeit anzufangen, die ohnehin recht knapp bemessen war, als in der Kirche zu sitzen und sich langweilige Predigten anzuhören!
„Ich hole Onkel Jon!“
Mit einem Ruck warf er sich auf dem Absatz herum und verschwand zum Stalltor hinaus.
„Dieser Junge! Aus dem wird noch ein prächtiger Rancher!“ Harold McCullough lächelte zufrieden.
„Meinst du?“, erwiderte seine Frau und es klang beinahe sarkastisch. Ein wenig erstaunt hob er die Brauen, doch sie widmete sich bereits wieder der Wunde des Hengstes, um sie zu reinigen und zu desinfizieren.
Harold McCullough war ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit kastanienbraunem Haar und einem wettergegerbten Gesicht, wie es nur jemand besaß, der sein Leben lang draußen, in der freien Natur gearbeitet hatte. Den dichten Schnurrbart trug er meist zu lang, sodass dieser im Takt seiner Worte wippte, wenn er sprach. Harold wirkte auf seine Mitmenschen für gewöhnlich sehr selbstbewusst und unnachgiebig, beinahe hart und dieser äußere Eindruck täuschte nicht. Er gehörte zu den stolzen, schwer arbeitenden Ranchern, die in ihrer Jugend dem rauhen Klima von Wyoming getrotzt hatten. In Kalifornien erging es ihm heute wesentlich besser und es gab für ihn nichts Wichtigeres und Schöneres, als über Kälber, Pferde und die zu erwartenden Ernten bei einem guten Glas Whiskey zu philosophieren. Häufig geschah dies in Gesellschaft der Nachbarrancher oder im Rahmen von Versammlungen des Viehzüchterverbandes in Reno.
Der genaue Gegensatz zu ihm war seine Frau. Fey McCullough reichte ihrem Mann gerade bis zu den Achselhöhlen und besaß einen dünnen, beinahe mageren Körper. Ihr sanftes, hübsches Gesicht verbarg die Härte, die ihrem Charakter entsprach und der nur selten und in der Regel dann, wenn ihr etwas nicht recht war, aus ihr herausbrach. Dafür jedoch wurden diese Ausbrüche von all ihren Mitmenschen umso mehr gefürchtet.
Währenddessen stapfte Byron durch den hohen Schnee hinüber zum Bunkhouse. Seine Faust donnerte gegen die Eingangstür der Unterkunft. „Onkel Jon! Onkel Jon!“
Es vergingen einige Sekunden und allmählich merkte er, dass es doch sehr kalt geworden war über Nacht. Er bibberte, aber er hatte einen Auftrag von seiner Mutter erhalten und den würde er auch ausführen. Er klopfte noch einmal und endlich wurde die Türe von innen aufgezogen. Dahinter erschien ein schlanker, großer Mann mit graumelierten Haaren, das Hemd noch offen und mit schläfrigem Blick.
„Gott, Junge, was soll dieser Lärm schon in aller Herrgottsfrüh?!“ Der Vormann der Coyote Canyon Ranch kratzte sich den Dreitagebart.
„Du sollst sofort kommen! Black Pearl hat heute Nacht seinen Verschlag zusammengehauen und sich dabei verletzt!“
„Ah?“, war die einzige Antwort. Schließlich nickte der Mann und legte seine Hand auf den Kopf des Jungen. „Und du, geh wieder rein, bevor du dir eine Lungenentzündung holst! Ich bin schon auf dem Weg!“
Byron wandte sich dankbar um. Er war froh, wieder ins warme Haus zurückgehen zu können. Eigentlich war Jonathan Sanfors nicht sein Onkel, aber sie alle nannten ihn so. Er arbeitete bereits seit vielen Jahren für ihren Vater und sie wussten nicht, wie es ohne ihn auf der Ranch wäre. Schon von Beginn an hatten sie ihn als eine Art Onkel betrachtet, den es nicht gab in ihrem Leben. Fey besaß keine Geschwister mehr und die Brüder von Harold waren in alle Winde zerstreut. Byron konnte sich kaum an eine Begegnung mit einem von ihnen erinnern. Für ihn, wie für seine Geschwister, war Jon der Ersatz für Großvater, Onkel und all die anderen Verwandten, die sie nicht kannten.
Als Byron das Haus betrat, fand er im Wohnraum seine drei jüngeren Geschwister versammelt. Die vierjährigen Zwillinge weinten und schrien und Stacy tat sein Möglichstes, sie zu beruhigen.
„Na, endlich!“, fuhr er seinen älteren Bruder zornig an, als dieser wieder in der Tür erschien. „Ich dachte schon, ihr seid alle verschollen!“
Byrons Blick verfinsterte sich. „Du wirst es ja wohl noch hinbekommen, zwei kleine Mädchen zum Schweigen zu bringen!“
„Dann mach’ es doch selber!“, rief Stacy aufgebracht und sprang vom Sofa auf, wohin er seine beiden kleinen Schwestern gesetzt hatte. „Ich geh’ mir was anziehen!“
„Klar, hau’ ruhig ab und überlass’ mir mal wieder die ganze Arbeit!“
„Du bist doch eh der Klugscheißer in der Familie!“, schrie Stacy zurück und rannte die Treppe hinauf, so schnell er konnte. Manchmal, da konnte es Byron richtig fertigbringen, dass er ihn hasste.
Den Vormittag verbrachten die Kinder draußen, im Schnee und waren kaum dazu zu bewegen, wenigstens zum Mittagessen hereinzukommen. Wie jeden Tag brachte Fey auch zu Jon und den anderen beiden Männern, die für sie arbeiteten – Bruce und Craig – etwas davon hinüber zum Bunkhouse. Morgen würden die beiden für drei Monate fortgehen. Im Winter über brauchten sie keine zusätzlichen Arbeitskräfte und die Cowboys fuhren entweder nach Hause, um sich dort während dieser Zeit etwas Geld dazuzuverdienen oder sie gingen gleich irgendwo in die nahegelegenen Städte und suchten sich dort übergangsweise Arbeit. Nur Jon blieb. Er hatte keine Familie mehr irgendwo in diesem Land. Er war allein und seine einzige Familie, die er besaß, waren Harold und Fey und deren vier Kinder.
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