1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Jörg machte sich wieder auf den Weg. Es war heute etwas kühler als die Tage davor, er führte dies auf den auffrischenden Wind zurück und war dankbar für den Wechsel. Alles lief zunächst wie erwartet, er erreichte den Bergkamm und passierte ihn diesmal auf der linken Seite. Nach etwa zwei Kilometern kam er an einen ausgetrockneten Bachlauf, der vom Bergkamm wegführte. Er hatte steile brüchige Hänge, Jörg brauchte zwei Versuche, um auf der anderen Seite hochzukommen. Die Aktion hatte ihn eine viertel Stunde gekostet und er beschleunigte die Geschwindigkeit, um den Zeitverlust wieder aufzuholen.
Der Wind wurde stärker und er stolperte häufig. Er erreichte das Ende des Bergkamms, der hier nach Norden abbog. Dies war jetzt etwa die Strecke, die er am Tag zuvor zurückgelegt hatte, ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er dafür eine gute Stunde benötigt hatte. Er bemerkte, dass ihm das Ablesen der Uhrzeit schwerer fiel, offenbar war es dunkler geworden. Ihn befiel ein mulmiges Gefühl, er fühlte sich mit einmal unheimlich allein. Was machte er an diesem unwirklichen Ort? Warum konnte er nicht in seinem Tempel sein, mit seinem Freund diskutieren, die Ruhe genießen, und sich auf seine Rückkehr nach Hause freuen? Was war das für eine höhere Macht, die sein Schicksal in irgendwelche Bahnen lenkte, ohne jede Rücksicht auf seine Persönlichkeit? Es war unfair! War der Verlauf seines Lebens vielleicht wirklich bis in jedes Detail vorherbestimmt, wie ein präzises Uhrwerk, entsprechend den Gesetzen von Ursache und Wirkung? Warum sollte er dann noch eigentlich nachdenken, was er als Nächstes tun sollte, es lag ja ohnehin fest? Aber er dachte darüber nach, er konnte sich so oder so entscheiden. Also hatte er doch einen freien Willen, der die Entscheidung vornahm. Er erinnerte sich wieder an Descartes, der an seiner eigenen Existenz gezweifelt hatte. Dessen Problem war ähnlich. Descartes kam zu dem Schluss, dass er dachte, also auch existieren musste. Jörg erinnerte sich an seinen Philosophieprofessor, der den Ausspruch als Gelegenheit für einen Scherz benutzte: Coitus, ergo sum. Auch logisch. Und er erinnerte sich an die anschließende Diskussion. Es kamen Zweifel an der Schlussfolgerung von Descartes auf: Was, wenn das Gefühl des Denkens auch nur eine Täuschung war? Jörg glaubte ebenfalls, die freie Entscheidung zu haben, zum Beispiel weitergehen oder umkehren, aber vielleicht war dies ja auch nur eine Täuschung? Er dachte an Sue und entschloss sich weiterzugehen. Wieder begann das mühselige Verfahren mit den Stöcken und den Seilen, es ging jetzt wieder deutlich langsamer. Es wurde immer dunkler und er hatte zunehmend mehr Mühe, die Umgebung zu erkennen. Der Wind nahm beängstigend zu, eine Bö ließ ihn stolpern und er fiel zu Boden. Er entschloss sich für eine letzte Seillänge und dann hörte er das Rauschen der Brandung. Es war beunruhigend laut, Regen kam, plötzlich war es stockdunkel. Er konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten und suchte Halt an einem Baum. Vor zwei Wochen hatte er schon mal einen Taifun erlebt, aber da hatte er sich in seinem Gästehaus in Serpong aufgehalten und fasziniert auf die aufgepeitschte Landschaft geblickt.
Jetzt geriet er wirklich in Panik, die Situation war jetzt überhaupt nicht mehr faszinierend, sondern ausgesprochen bedrohlich. Wie sollte er den Weg zurückfinden, wenn der Regen länger andauerte? Und auch wenn es aufhörte, waren seine Zweige nicht inzwischen weggefegt? Er hatte einen Anhaltspunkt, der Winkel, mit dem er auf das Ufer aufgetroffen war, war einigermaßen senkrecht. Er müsste sich also nur senkrecht zurückbewegen, um seinen Berg der guten Hoffnung wiederzufinden, aber auch dazu brauchte er Licht. Schlimmstenfalls müsste er bis zur Morgendämmerung warten. Er rechnete, das wäre etwa um sechs, dann benötigte er noch etwa drei Stunden bis zum Camp und wäre um neun wieder zurück. Das würde genügen, die Entführer kamen mit dem Proviant um elf, sein Verschwinden bliebe also unentdeckt. Er setzte sich, lehnte sich an den Baum und zwang sich zur Ruhe. Nach zwei Stunden hörte der Regen so schnell wieder auf, wie er gekommen war. Nach der absoluten Dunkelheit schien ihm der Mond jetzt taghell zu leuchten. Es war inzwischen ein Uhr nachts. Seine Zweige waren tatsächlich weggeweht, aber er war sicher, auf Grund der guten Sichtverhältnisse und der Vorgabe der Richtung die Bergkette auch so zurückfinden zu können, es handelte sich schließlich nur um einige hundert Meter. Seine Zuversicht wurde nicht enttäuscht, er war ungemein erleichtert, jetzt konnte nichts mehr schiefgehen, er dachte an Sue und war glücklich. Und dann kam er an das Flussbett. Aus dem ausgetrockneten Bachlauf war ein reißender Strom geworden. Er schien unüberwindbar, Jörg war kurz davor, sich hinzusetzen und einfach aufzugeben. Er war mit einem Mal unendlich müde, nachdem, was bisher schon passiert war, war dies einfach zu viel. Welche Möglichkeiten hatte er? Das Wasser war zu tief, um es durchwaten zu können. Zum Schwimmen war die Strömung viel zu schnell, er würde es nie schaffen, am anderen Ufer rauszukommen. Er konnte warten, bis der Wasserspiegel wieder fiel, schließlich konnte so ein kleiner Berg nicht allzu viel Wasser speichern, auch wenn der Regen sehr heftig gewesen war. Aber wie lang würde das dauern?
Er beschloss, bachabwärts zu gehen. Vielleicht fand er ja eine leichter passierbare Stelle, der Zeitfaktor war ebenfalls auf seiner Seite. Nach zweihundert Metern entdeckte er einen entwurzelten Baum, der auf die gegenüberliegende Seite ragte. Er hatte schon öfters in Filmen gesehen, wie man Baumstämme als Brücke benutzte, und setzte sich rittlings auf den Stamm. Er rutschte zentimeterweise vorwärts. Auf halber Strecke ragte ein großer Zweig nach oben, der seinen Vormarsch stoppte. Er hob das rechte Bein und bewegte es auf die andere Seite des Zweiges. Jetzt hingen beide Beine nach links. Er hielt sich weiter am Zweig fest und zog das linke Bein nach, um sich anschließend rückwärts weiterbewegen zu können. Er hatte es beinah geschafft, da drehte sich der Stamm. Jörg hielt sich krampfhaft am Zweig fest und hing jetzt senkrecht über dem Bach. Seine Beine ragten bis zu den Oberschenkeln ins Wasser hinein, die Strömung verstärkte den Zug auf seine Arme. Der nächste Zweig war einen Meter entfernt. Er nahm allen Mut zusammen und ließ eine Hand los, um den zweiten Zweig zu packen. Er versuchte, sich diesem durch Schaukelbewegungen zu nähern, aber die Strömung hielt ihn in seiner Position. Dann verließ ihn die Kraft und er fiel. Die Strömung riss ihn unbarmherzig mit sich. Er war ein guter Schwimmer, aber hier ging es nur noch darum, denn Kopf oben zu behalten und Verletzungen zu vermeiden. Seine Gedanken rasten. Wie weit war es bis zur Küste? Etwa ein Kilometer. Wie würde er dort ankommen? Am seichten Ufer oder prallte er auf ein Riff? Und würde ihn die Strömung ins Meer spülen? Wenn jetzt Ebbe war, wäre er verloren. Er drehte sich in Bewegungsrichtung und versuchte mit den Füßen Hindernisse abzufedern. Plötzlich tauchte vor ihm etwas auf, er versuchte noch unterzutauchen, aber es war zu spät. Der Schlag auf den Kopf ließ ihn fast besinnungslos werden. Er ließ sich jetzt einfach nur noch treiben, willenlos und ohne Hoffnung. Weitere Hindernisse im Wasser scheuerten ihm den Rücken auf, sein rechtes Knie prallte gegen einen Stein.
Dann ein Wunder! Auf der rechten Seite war eine Einbuchtung, die einen Teil des Wassers zur Strömungsumkehr zwang. Er kannte dieses Phänomen vom Wildwasserpaddeln, es hatte dort auch einen eigenen Namen: Kehrwasser. Jörg war in Sicherheit, und es war zum Glück auch auf der richtigen Seite. Seine Müdigkeit war verflogen, die Schmerzen vergessen. Die Bergkette war schwach zu erkennen, offenbar war der im Wasser zurückgelegte Weg sehr viel kürzer als gefühlt. Er nahm seinen Marsch wieder auf, dabei wählte er einen Winkel von fünfundvierzig Grad, um Weg zu sparen. Das rechte Knie begann zu schmerzen. Zur Entlastung suchte er sich einen Stock mit einer Gabel, den er auf die richtige Länge kürzte. Dann humpelte er langsam, aber stetig vorwärts, den verschwommen sichtbaren Bergkamm immer im Blick, auf keinen Fall durfte er jetzt die Richtung verlieren. Nachdem er zum wiederholten Mal gestolpert war, fühlte er plötzlich ein Hindernis. Es war ein Draht, zwei Handbreit über den Boden gespannt. Er war alarmiert, seine Lichtung war noch viel zu weit entfernt!
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