Sie beendeten das Gespräch und Jacobi forderte die Personalakte von Breithaupt an. Er hatte sich nicht getäuscht, Breithaupt hatte in Kalkar promoviert. Sein Doktorthema war die experimentelle Untersuchung von Strukturmaterialien, die für den schnellen Brüter vorgesehen waren. Nach erfolgreichem Abschluss hatte er sein Tätigkeitsfeld komplett geändert. Beim Bewerbungsgespräch gab er hierfür Gewissensgründe an. Jacobi erinnerte sich an die damalige Berichtserstattung in den Medien. Der Reaktortyp sollte angeblich während der Energieerzeugung auch noch gleichzeitig neuen Kernbrennstoff erzeugen, dies erinnerte ein wenig an ein Perpetuum mobile. Das Fatale stellte sich im Laufe der Entwicklung heraus, nämlich dass diese Annahme offenbar auf einem Fehler in der Berechnung beruhte. Da schon immense Summen in das Projekt hineingesteckt worden waren, hatte die Politik große Mühen, es zu stoppen, keiner wollte die Verantwortung übernehmen. Dazu kam, dass die angewandte Technik höchst riskant war. Die Spaltung erforderte im Gegensatz zum konventionellen Kernreaktor schnelle Neutronen, dies verbot den Einsatz von Wasser als Kühlmittel. Stattdessen wurde als Wärmeträger flüssiges Natrium verwendet. Breithaupt hatte damals drastisch geschildert, was im Falle eines Gaus passieren würde: Bei einem Leck in der Kühlflüssigkeitsleitung trat flüssiges Natrium an die Luft. Dort würde es sich sofort selbst entzünden und eine Explosion einleiten. Die Folge wäre verheerend: das im Reaktor erzeugte Plutonium, einer der giftigsten Stoffe überhaupt, würde fein verteilt in die Atmosphäre gelangen. Diese Argumentation von Breithaupt war im Vorstellungsgespräch eine überzeugende Begründung gewesen, eine mögliche Karriere aufzugeben und ganz von vorne anzufangen. Dann erinnerte Jakobi sich plötzlich an ein Interview, das vor zwei Tagen im Fernsehen gesendet worden war. Ein Reporter des „Stern“ war unter etwas mysteriösen Umständen nach Afghanistan eingeladen worden. Das Gespräch hatte unter höchster Geheimhaltung in einer Höhle in den Bergen stattgefunden. Der Bericht des Reporters barg tatsächlich eine kleine Sensation, der Interviewte sah aus wie eine Reinkarnation von bin Laden, nur jünger. Der Inhalt des Gesprächs war typisch für Gestalten dieser Art. Er beschrieb die Mitglieder des IS als Schlächter, unwürdig im Namen des Islam zu handeln. Unter ihrer Herrschaft starben wahllos neben Schiiten und Christen auch Sunniten, sie waren dafür für die Hölle bestimmt. Es sei endlich Zeit für eine radikale Lösung, an deren Ende eine wirkliche islamische Weltordnung nach sunnitischem Vorbild stünde. Die folgende Botschaft war eindeutig: „Wir werden die Welt, so wie sie jetzt besteht, vollständig vernichten.“ Der Auftrag war ihm in einer Offenbarung von Allah befohlen worden, er hätte zur Durchführung ein halbes Jahr Zeit. Die Sunniten reinen Glaubens sollten unbesorgt sein, sie würden „Hour Zero“ unbeschadet überleben und anschließend in einer Gemeinschaft leben, die Allah gefällig ist. Er wirkte auf Jakobi ungemein überzeugend, auch wenn er ihm natürlich keinen Glauben schenkte. Jedenfalls nicht vor zwei Tagen. Jakobi dachte lange nach, er versuchte die Fakten zusammenzufassen. Der Siemensmitarbeiter war ein international anerkannter Spezialist für die Einstellung bestimmter Parameter für eine gewünschte Kettenreaktion, diese schlossen auch Versuche zur Simulation von Atombomben ein. Breithaupt hatte ebenfalls ein umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet, speziell mit schnellen Brütern. Die entführte Entwicklungsleiterin kam aus Singapur, also örtlich sehr nahe zu den beiden anderen Fällen, sie war Expertin für fortschrittliche Fernsteuersysteme und hatte sicher auch ein fundiertes Wissen über alle Arten von elektronischen Kontroll- und Steuersystemen. Ein fanatischer Fundamentalist kündigte das Ende der Welt an. Ein Verdacht keimte in Jakobi auf, der so ungeheuerlich war, dass er sofort zum Hörer griff.
„Bitte verbinden Sie mich mit Habibi in Jakarta! Sagen Sie, es ist sehr dringend.“
Habibi war sofort am Telefon. „Hallo, Hal, ich hoffe, du hast noch nicht Feierabend.“ In Darmstadt war es zwar erst Mittag, aber Jakarta war sechs Stunden voraus.
Habibi beruhigte ihn. „Ich wollte sowieso später gehen, ich warte noch auf den Bericht unseres Werkschutzes. Ich habe sie beauftragt, einen verschärften Sicherheitsplan auszuarbeiten.“
Jakobi war überrascht. „Das genau wäre meine erste Bitte gewesen.“
Er berichtete von seinem Verdacht. Habibi unterbrach ihn: „Das kannst du nicht wirklich glauben, das ist undenkbar! Niemand kann das wollen.“
Jakobi insistierte. „Und wenn er glaubt, von Gott den Auftrag bekommen zu haben?“ Er berichtete Hal von dem Interview.
Habibi dachte nach. „Bin Laden hatte mehrere Söhne, sie waren damals in Pakistan nicht dabei, der älteste müsste etwa Mitte dreißig sein, sein Name ist, glaub ich, Hamsa bin Laden. Das Alter könnte hinkommen, und die Ähnlichkeit mit seinem Vater war wirklich verblüffend. Wahrscheinlich hat er da noch etwas nachgeholfen, um seine Wirkung zu verstärken, man sagt, er hat seinen Vater sehr geliebt. Ich will nicht glauben, dass dein Verdacht zutrifft! Aber wenn es wirklich wahr ist, was sollten wir dann jetzt tun? Wir können doch nicht die ganze Menschheit in Panik versetzen.“ Jakobi stimmte zu: „Nein, wir brauchen mehr Fakten, bevor wir irgendetwas unternehmen. Wenn wir mehr Hinweise haben, müssten wir wohl irgendeinen Geheimdienst oder so was informieren. Das bringt mich zu meiner zweiten Bitte, könntest du mal nachforschen lassen, ob es in eurer Region noch weitere ähnliche Fälle unerklärten Verschwindens von Personen gibt, die ins Schema passen?“
Jörg wachte auf, als es schon lange hell war. Er und Sue hielten sich noch genau so umschlungen wie in dem Moment, als sie eingeschlafen waren.
Er fühlte ihren Oberschenkel zwischen seinen Beinen. Die Berührung ging nicht spurlos an ihm vorbei, er verstärkte den Druck. Ihm tat noch alles weh, aber das war im Moment vergessen, er genoss das Gefühl ihrer intimen Nähe. Sue erwachte und blickte ihn an.
„Entschuldige!“
Sie sah ihn einen Moment verständnislos an, dann lächelte sie und erwiderte den Druck. „Bitte bleib noch einen Moment so, ich fühle mich so unbeschwert, wie lange nicht mehr, ich könnte ewig so mit dir liegen bleiben.“
Zehn Minuten später beschlossen sie aufzustehen. Die anderen saßen draußen und schauten sie stumm an. Dann bemerkten sie seinen Zustand. Ben fuhr von seinem Stuhl hoch und ging auf ihn zu.
„Was um Gottes willen ist mit dir passiert, du siehst aus, als wenn du einen schlimmen Autounfall erlebt hättest.“
Jörg setzte sich, Sue blieb neben ihm stehen, bereit ihn zu stützen, falls er umkippen würde. „Gebt mir einige Minuten mich zu sammeln, ich habe große Lust auf einen Kaffee.“
Mit einem Becher Kaffee in der Hand fing er an zu erzählen, erst stockend und dann immer schneller. Er berichtete von seiner Ankunft an der Küste und wie ihn der Taifun überrascht hatte. Als er beschrieb, wie er in das reißende Gewässer abgestürzt war, schluchze Sue laut auf. „Ich hatte Glück und konnte mich etwas weiter unten ans rechte Ufer retten. Und was jetzt kommt, werdet ihr nicht glauben.“
Nachdem er mit seiner Schilderung fertig war, sah er in zweifelnde Gesichter. Ben fragte zweifelnd: „Bist du sicher, das nicht nur geträumt zu haben, du bist vielleicht vor Erschöpfung eingeschlafen, und nach deinem Erlebnis wäre ein Alptraum doch das natürlichste von der Welt.“
Jörg dachte kurz nach, dann sagte er mit Bestimmtheit: „Nein, auf keinen Fall, dazu ist die Erinnerung zu deutlich. Ich erinnere mich an jedes einzelne Detail, als wenn es gerade passiert wäre, wäre es ein Traum gewesen, wäre die Erinnerung schon nach einigen Minuten verflogen.“
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