„ Für alle? Also auch für mich?“
Barnett blickte mich schweigend an. Panik, Adrenalin, Schweiß, Angst. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Mein Schicksal lag jetzt nicht mehr in meinen eigenen Händen.
„ Mache dir keine Sorgen, Luis! Ich hole dich da raus und kümmere mich um Rosalie und die Mädchen.“
„ Drehen Sie sich jetzt um, Mr. Olivares, strecken Sie Ihre Hände auf den Rücken.“
„ Was geschieht mit meiner Familie?“
„ Wir sind nur hier, um Sie abzuholen, alles Weitere wird sich zeigen.“
Besorgt schaute ich ein letztes Mal zu Pfarrer Brown auf dem Dach. Er nickte mir beruhigend zu.
„ Müssen die Handschellen wirklich sein? Glauben Sie, ich bin gefährlich?
„ Ja, das ist Vorschrift.“
Das waren die letzten Worte, die ich in Freiheit hörte, bevor sich die Handschellen auf meinem Rücken schlossen und ich unsanft auf den Rücksitz eines der Wagen bugsiert wurde. Es war schmerzhaft, auf meinen Armen zu sitzen, die hinter meinem Rücken fixiert waren. Barnett setzte sich auf den Beifahrersitz, sein Kollege hatte sich auf der Rückbank neben mich gesetzt und sagte kein Wort. Als der Fahrer den Rückwärtsgang einlegte, trafen sich ein letztes Mal die Blicke von Pfarrer Brown und mir durch das halb geöffnete Wagenfenster. „Küssen Sie die Menschen, die ich liebe. Sagen Sie Ihnen, sie sollen nicht weinen. Wenn ich mich darauf verlassen kann, dann kann ich stark bleiben.“
„ Das wissen sie!“, rief mir Pfarrer Brown hinterher, während sich unsere kleine Wagenkolonne schnell in Bewegung setzte. Pfarrer Brown rief mir noch etwas hinterher, aber ich konnte ihn nicht mehr verstehen, während wir davonrasten. Es gab überhaupt keinen vernünftigen Grund, so schnell zu fahren.
„ Wir werden jetzt eine halbe Stunde unterwegs sein, in der Zeit herrscht hier Ruhe“, machte Barnett vom Beifahrersitz aus den beiden Beamten im Wagen klar. „Geht es Ihnen soweit gut, Mr. Olivares?“ Ich antwortete nicht. Was hätte ich auf diese Frage auch entgegnen sollen? Stattdessen blickte ich stumm aus dem Seitenfenster, wie das Leben wortwörtlich an mir vorbeizog. Im Auto herrschte angespannte Stille. Die Narbe an meinem Kinn juckte, aber ich konnte sie nicht kratzen.
Nach ein paar Minuten schweigender Fahrt war es dem jungen Agenten am Steuer wohl zu ruhig, und er schaltete kurzerhand das Radio an. Barnett blickte ihn kurz ernst an, ließ ihn dann aber gewähren. Im Radio lief eine Wahlkampfdiskussion mit Zuhöreranrufen. Eine Anruferin, eine junge Frau aus Texas, redete sich in Rage für Trump und gegen alle, die gegen den Präsidenten waren. Ihr Name war Jill, sie war erst 19 Jahre alt, wie sie auf Nachfrage mitteilte, und trotz ihres geringen Alters war sie schon voller Hass, den sie sich unmöglich ganz allein hatte aufladen können. Acht Jahre Trump hatten deutliche Spuren bei ihr hinterlassen, sie kannte ja praktisch keinen anderen Präsidenten.
Sie schimpfte auf alle, die Trump kritisierten. Sie wünschte sich, dass die Mauer fertiggestellt würde und Mexiko auch dafür bezahlte. „Warum?“, wollte der Moderator wissen, doch Jill wusste keine Antwort. Alles, was ihr dazu einfiel, war: „Mexikaner sind schlimme Menschen.“
Tatsächlich war Trumps Mauer beinahe fertiggestellt. Mexiko hatte keinen einzigen Dollar dafür bezahlt und würde das auch ganz sicher niemals tun. Egal, wie oft Trump das Gegenteil behauptete. Barnett schaltete das Radio aus und ließ keinen Zweifel daran, dass dies für den Rest der Fahrt auch so bleiben würde. Die Radiosendung war symptomatisch für die Stimmung im Land eine Woche vor der Präsidentschaftswahl. Der Graben durch die amerikanische Gesellschaft war mittlerweile so tief, dass sich kein Amerikaner mehr vorstellen konnte, wie er je wieder zugeschüttet werden sollte. Und nicht wenige wollten das auch gar nicht. Niemand hatte eine Idee zur Überwindung, und schon gar nicht die Demokraten. Ihr Präsidentschaftskandidat war vollkommen überfordert von der Wucht, mit der Trump die Dinge vorantrieb. Niemand hörte ihn, aber alle hörten den Präsidenten und seine apokalyptische Warnung vor Sozialismus und linkem Terror, den die Demokraten angeblich über das Land bringen wollten.
Wie Landminen hatte Donald Trump den Hass unter den Menschen gesät, und eine nach der anderen ging jetzt hoch. Die Botschaft an seine Anhänger war klar: Jeder kann etwas tun, um Amerika wieder groß zu machen und all diejenigen auszuschalten, die Amerika hassen. Was so ziemlich jeden einschloss, der Trump auch nur irgendwie kritisierte. Vor vier Jahren hatte Trump ein Amtsenthebungsverfahren überstanden und sich erfolgreich in eine zweite Amtszeit geklagt. Selbst der wütende Sturm seiner Anhänger auf das Capitol hatte das nicht verhindert. Trumps Gegner zweifelten weiterhin öffentlich an seinen mentalen Fähigkeiten, sein Amt auszuführen, aber den Präsidenten scherte das nicht – er fühlte sich unbesiegbar! Und die Tatsache, dass er noch immer im Amt war, gab ihm recht. So war es in seiner Logik nur konsequent, dass er sich nicht mit vier weiteren Jahren begnügen wollte. Kaum hatte er seine zweite Amtszeit angetreten, fingen er und seine willigen Helfer an, die öffentliche Meinung zu manipulieren wie nie zuvor. Er verkaufte den Menschen seine eigenen Wünsche als die ihren und twitterte immer häufiger, dass er bereitstehe, wenn Amerika ihn länger als weitere vier Jahre an der Spitze bräuchte.
Für seine Tweets nutzte er nun immer häufiger die Accounts prominenter Freunde, weil Twitter ihn immer wieder sperrte. Doch das stoppte Trump nicht. Im Gegenteil, es spielte ihm in die Karten, denn so konnte er seinen Anhängern beweisen, dass die Lügenpresse und die großen Medienunternehmen ihn Hand in Hand mit den Demokraten zum Schweigen bringen wollten. Natürlich war das nicht der Fall, aber seine Fans glaubten es nur zu gerne. Trump wurde jeden Tag größenwahnsinniger. POTUS klang plötzlich viel mehr nach einem römischen Kaiser als nach President of the United States. Doch je absurder Trumps Äußerungen wurden, desto mehr verehrten ihn seine Anhänger. Jeder einzelne von ihnen, und das waren fast fünfundsiebzig Millionen Amerikaner, hatte bei der letzten Wahl einen ganz persönlichen Grund gehabt, für Trump zu stimmen. Auch Schwarze, Latinos und Frauen. Selbst tiefgläubige Christen haben für den Ehebrecher und überführten Lügner gestimmt. Und so wie die Meinungsumfragen aussahen, würden sie es bei der anstehenden Wahl wieder tun. Die Stimmung im Land war so aggressiv wie nie zuvor und Donald Trumps Boshaftigkeit auf ihrem bisherigen Höhepunkt. Er hatte den Graben, der das Land seit seinem Amtsantritt immer weiter gespalten hatte, scheinbar unüberwindbar gemacht.
Und offensichtlich führte dieser Riss auch mitten durch das Auto, in dem ich jetzt gezwungen war zu sitzen, bewacht von gleich drei FBI-Agenten. Nach einer Dreiviertelstunde erreichten wir einen flachen, weißen Gebäudekomplex und verschwanden kurz darauf in dessen weitläufiger Tiefgarage. Barnett las eine Nachricht auf seinem Mobiltelefon und zog mich kurz zur Seite, als wir den Wagen verließen. Die restlichen fünf Beamten ließ er ein paar Meter weiter warten. „Ihre Frau und Ihre Töchter wurden nicht festgesetzt. Sie befinden sich in Kirchenasyl. Ich habe gerade eine Nachricht bekommen. Ihrer Familie geht es gut, und es wird ihr nichts geschehen. Denken Sie immer daran, heute und in den nächsten Tagen. Egal, was passiert.“
„ Was wird passieren?“, fragte ich. Inzwischen fühlte ich gar nichts mehr. Meinen unerschütterlichen Glauben daran, dass am Ende immer alles gut wird, hatte ich noch nie verloren, nicht mal in dieser ausweglosen Situation. Doch schlimme Beklemmungen packten und schüttelten mich immer wieder heftig durch, bevor der Optimismus wieder die Oberhand gewann.
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