Das Land war tief gespalten und voller Hass. Aber das Leben in Santa Roca hingegen war eine friedliche Oase, die selbst Richterin Buttworth nicht vollends zerstören konnte. Und zum Glück lebte sie nicht in der Gemeinde, sondern in der Bezirkshauptstadt einige Meilen entfernt. Unsere Situation war einigermaßen schizophren. Während im ganzen Land gegen Mexikaner gehetzt wurde, erfuhren wir in Santa Roca Liebe. Bei den Gerichtsanhörungen dann wieder Hass. Und wenn wir zurück nach Hause kamen, das Lächeln in den Gesichtern der Menschen. Wir waren in diesem Widerspruch gefangen und konnten weder vor noch zurück. Aber wir waren fest entschlossen, niemals aufzugeben.
»Die Falle schnappt zu« Dienstag, 29. Oktober 2024, 8:00 Uhr. Noch 7 Tage bis zur Wahl.
Dieser Morgen begann mit dem positiven Gefühl eines guten Tages. Verliebt blickte ich auf das Kissen neben mir und gab Rosalie einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Aller Zwietracht zum Trotz, die Buttworth zwischen uns gebracht hatte, verband mich mit Rosalie eine tiefe Liebe.
„ Guten Morgen“, flüsterte ich ihr ins Ohr. Verschlafen vergrub sie ihr süßes Gesicht tief im Kissen. Ich betrachtete sie eine Weile, bevor eine Bewegung in meinem Augenwinkel meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Jimmy, der Nachbarskater, war auf den Fenstersims gesprungen und hatte sich dort zur Fellpflege niedergelassen. Als er mich entdeckte, legte er seinen Kopf zur Seite, blickte mich mit seinen leuchtend grünen Augen an und machte schließlich einen großen Satz zurück auf den Baum, vom dem aus er hier hochgeklettert war. Jimmy saß oft vor unserem Schlafzimmerfenster. Von hier aus hatte er nicht nur den Vorgarten im Blick, sondern auch den schmalen Fußweg hin zur Straße und all das Geschehen darauf.
„ Mach dir keine Sorgen. Wenn wir zusammenhalten, dann kann uns der Präsident nichts anhaben“, flüsterte ich Rosalie ins Ohr, die zwar wach war, aber noch keinerlei Lust verspürte, das Bett zu verlassen. „Wir sehen uns heute Mittag, ich gehe jetzt zu Pfarrer Brown und repariere mit ihm das Dach des Gemeindehauses. In den nächsten Tagen soll es regnen.“ Mit geschlossenen Augen zog Rosalie mich zu sich und drückte ihr Stupsnäschen in meine Wange. „Du hast recht, alles wird gut, wenn wir zusammenhalten. Wir dürfen uns nicht auseinanderbringen lassen. Wir sehen uns heute Mittag. Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch“, flüsterte ich zurück und gab ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. Vor dem Fenster glitzerte die warme Herbstsonne durch die goldenen Blätter der Bäume. Ein Tag, der so perfekt begann, konnte doch gar nicht schlecht enden, dachte ich und machte mich beschwingt auf den Weg.
Pfarrer Brown war bereits auf dem Dach, als ich das Gemeindehaus erreichte. Das Gebäude war schon etwas in die Jahre gekommen, das Dach hatte an einigen Stellen Löcher, die nur notdürftig mit Holzplanken und einer Plane abgedeckt waren. Doch jetzt, wo es nicht mehr lang bis zum nächsten Winter war, sollte das Dach endlich geflickt werden, und die Gemeinde hatte genügend Geld gesammelt, um das nötige Baumaterial zu kaufen. Pfarrer Brown war nicht nur ein Mann wahrer, notwendiger und freundlicher Worte, er war auch ein Mann der Tat. Diese Leidenschaft teilten wir, und so war ich inzwischen so etwas wie der Generalhausmeister für die ganze Gemeinde und die Häuser ihrer Mitglieder geworden. Ehrenamtlich, denn richtig arbeiten durfte ich noch immer nicht, solange über unseren Asylantrag nicht entschieden war. Daran hatten auch mehrere Anträge von uns aus nichts geändert. Und so lebten wird nun schon seit fast vier Jahren von unseren Rücklagen und der Unterstützung der Gemeinde, die unsere Wohnung bezahlte.
Ich erreichte das Gemeindehaus. „Luis! Pünktlich wie immer. Komm hoch, ich habe Kaffee hier oben!“, rief Pfarrer Brown mir vom Dach aus zu, als er mich sah. Mit einer Hand hielt er sich am Dach fest, während er mit der anderen eine weiße Thermoskanne mit blauem Deckel griff und in die Höhe hielt.
„ Brauchen Sie mich denn überhaupt?“, scherzte ich. „Das sieht doch mehr nach einem Ein-Mann-Job aus, einem Pfarrer-Brown-Job!“
„ Schwing Deinen Hintern auf die Leiter, bis heute Mittag müssen wir …“ Doch seine Worte blieben ihm im Hals stecken. Ich verstand nicht, was geschah. Alles ging so schnell. Im gefühlten Bruchteil einer Sekunde rasten drei dunkle Autos heran, preschten mit quietschenden Reifen den Bordstein hinauf und kamen auf der Wiese vor dem Gemeindehaus zum Stehen. Sechs Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus und kreisten mich ein.
„ Luis Olivares?“, fragte einer der Männer, ein großer, drahtiger. „Wir sind vom FBI.“ Hilflos blickte ich zu Pfarrer Brown. Und im Gegensatz zu mir schien er genau zu verstehen, was gerade geschah.
„ Lauf, Luis! Lauf in die Kirche, da dürfen sie dich nicht festnehmen.“ Doch zum Weglaufen war es zu spät. Ich war umzingelt. Die Männer trugen ihre Waffen gut sichtbar, zogen sie aber nicht aus den Halterungen. Mussten sie auch nicht. Allein ihre Körpersprache machte unmissverständlich klar, dass sie jederzeit bereit waren, die Waffen zu zücken und, wenn es sein musste, auch einzusetzen.
„ Luis Olivares?“, wiederholte der drahtige Mann, der hier ganz offensichtlich das Sagen hatte. Die anderen blickten ihn erwartungsvoll an, jederzeit bereit, mich zu überwältigen.
„ Mein Name ist John Barnett. Ich trage hier die Verantwortung. Wir sind hier, um sie mitzunehmen, wir haben das Recht dazu und die Pflicht. Wir wollen, dass es friedlich abläuft. Bleiben Sie ruhig stehen, und auch wir werden ruhig bleiben. Wir hätten Sie auch in Ihrem Haus verhaften können, vor den Augen Ihrer Familie, aber ich habe die Anweisung gegeben, dies nicht zu tun und Ihnen zu folgen, damit das hier in Ruhe über die Bühne geht. Sie sehen also, ich bin Ihnen schon ein Stück entgegengekommen. Also, Mr. Olivares, bleiben Sie ruhig, wenn meine Kollegen Ihnen jetzt Handschellen anlegen.“
Es hätte diese Ansage nicht gebraucht, nichts anderes als ruhig zu bleiben war jetzt das Richtige.
„ Was wollen Sie von mir? Warum werde ich verhaftet? Habe ich gegen das Gesetz verstoßen?“ Panik flutete mich, mein Hirn ratterte. Was hatte ich getan, warum wurde ich verhaftet? Es musste sich um ein Missverständnis handeln. An das Naheliegendste dachte ich nicht. Aber dann stürmte dieser Gedanke heiß kribbelnd über meinen Nacken in meinen Kopf. Trumps Abschiebepläne! Hatte dieser Wahnsinn tatsächlich begonnen, und konnte es sein, dass ich Trumps erstes Opfer war? Ich versuchte, die Panik niederzukämpfen, und drehte mich zu Pfarrer Brown. Ich blickte ihn Hilfe suchend an, doch es kam kein Wort über meine Lippen.
„ Wo bringen Sie Mr. Olivares hin?“, rief er den Beamten zu, während er sich daran machte, die Leiter herunterzuklettern.
„ Das darf ich Ihnen nicht sagen, Sir. Und bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Kommen Sie nicht runter“, sagte Barnett in einem Tonfall, der mehr als deutlich machte, dass er es sehr ernst meinte.
„ Was werfen Sie Mr. Olivares vor?“
„ Auch das darf ich Ihnen nicht sagen.“
„ Aber mir.“ Alle blickten mich an. „Sagen Sie mir, was man mir vorwirft, und sagen Sie es laut, ich will, dass auch Pfarrer Brown es hört.“
„ In Ordnung, das ist Ihr Recht, Mr Olivares. Sie sind illegal in die USA eingereist.“
„ Ich bin kein Illegaler! Ich habe mit meiner Familie offiziell Asyl beantragt. Das Verfahren läuft noch. Also, warum ich?“
„ Dazu kann ich nichts sagen“, antwortete Barnett. „Sie werden Ihre Antworten bekommen. Aber nicht jetzt und nicht von mir. Wir werden das hier jetzt zu Ende bringen. Es gibt Regeln, und wenn sich alle an sie halten, dann kann das hier für alle gut ausgehen.“
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