Kathrin Brückmann - Halbe-Halbe, einmal und immer

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Sophie Schatz wird demnächst Dreißig. Ihr Leben ist nicht gerade interessant, aber das ist es ja für fast niemanden. Sophie hat auch nicht wirklich viel vor. Ein Winterurlaub in der Karibik, das wäre mal ganz schön … mehr Sport treiben, sich gesünder ernähren, einen besseren Job finden … und ihren langjährigen Freund heiraten und Kinder bekommen, bevor es zu spät ist.
Aber das Schicksal hat eigene Pläne mit ihr. Erst wirft es Sophie eine Erbschaft vor die Füße, und statt in der sonnigen Karibik landet sie in der hinterletzten, tief verschneiten ostdeutschen Provinz. Dann geht für sie erst einmal alles schief, was schief gehen kann. Doch es gibt nichts Schlechtes, das nicht auch für irgendetwas gut wäre.
Allein und auf sich selbst gestellt lernt Sophie, dass eine gute Idee, eine wagemutige Entscheidung, Vertrauen in die eigene Kraft und in einen Fremden mit einem festen Händedruck und schönen Augen mehr und bessere Belohnungen mit sich bringen, als der tollste Urlaub und der beste Job.

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»Das arme Kerlchen«, meinte Sabine, »er wird sein Leben lang eine große Schwester haben. Das ist ein hartes Schicksal.«

Der Junge sollte Robert heißen, ein Name, von dem die Eltern hofften, dass er sie dafür nie hassen würde, und der gleichermaßen weit entfernt war von Kevin wie von Tristan oder Finn-Thorben.

20 – In dem allgemeinen Trubel,

der mit Besuchen von Großeltern, Onkeln, Tanten, Nichten und Neffen, von Freunden und Kollegen der Eltern um das neue Kind entstand, hätte Sophie fast eine E-Mail an sie von der Volksbank Küstrow übersehen. Im Betreff stand » Grobitzer Landstraße 210; Objekt Nr. … bla bla … bitte rufen Sie uns an .« Sophies Herz hüpfte: Die Bank musste einen Käufer für ihr altes Haus gefunden haben. Freudig erregt rief sie an. Der Mann, mit dem sie sprach, war nicht der Raucher. Die Stimme klang jung.

»Frau Schatz«, sagte die junge Stimme nach der Begrüßung, »aus betrieblichen Gründen bereinigen wir zurzeit unser Immobilienangebot, und haben …«

»Moment«, sagte Sophie: »Mit wem spreche ich? Sie sind nicht der, mit dem ich vor ein paar Wochen zu tun hatte.«

»Nein, der Herr, äh … ist bei uns ausgeschieden. Ich leite jetzt die Immobilienabteilung. Wir bereinigen zurzeit unser …«

Sophie wusste, was ›bereinigen‹ zu bedeuten hatte. Ihre Laune sank schlagartig. Vor ihrem inneren Auge sah sie den neuen Leiter der Immobilienabteilung der Volksbank Küstrow vor sich: einen übereifrigen, aufstiegsorientierten Typen, nicht älter als sie selbst, der einen für seine Verhältnisse zu teuren Anzug trug und dazu billige Schuhe. Sie unterbrach ihn zum zweiten Mal.

»Machen Sie es kurz, Herr Wie-war-noch-mal-Ihr-Name. Sie werfen mich raus, nicht wahr? Sie wollen das Haus nicht länger anbieten.«

»Wir müssen unsere Immobilienvermittlung wirtschaftlich betreiben«, sagte der junge Mann. »Aufträge, bei denen unser Aufwand für die Vermittlung kalkulatorisch größer ist als die zu erwartende Provision, können wir nicht bearbeiten. Wäre Ihr Objekt gebrauchsfertig renoviert, sähe das natürlich anders aus.«

Wäre mein Haus renoviert, dann bräuchte ich dich und deine Bank nicht, dachte Sophie.

»Wenn es einmal renoviert ist«, sagte der junge Mann, als hätte er Sophies Gedanken gelesen, »stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Heute sind Sie besser bei einem Immobilienmakler aufgehoben. Wir schicken Ihnen Ihren Vermittlungsauftrag und die Schlüssel zusammen mit der Kündigung in den nächsten Tagen zu.«

Sophie legte auf.

Alles zurück auf Anfang. Sie ließ das Gespräch mit dem Mann von der Volksbank zwei Tage lang sacken, auch mit der vagen Hoffnung, dass ihr vielleicht in dieser Zeit irgendetwas Geniales einfallen oder gar ein Wunder geschehen würde. Aber das tat es nicht. Schließlich suchte und fand sie im Internet zwei Immobilienmakler, die in und um Küstrow aktiv waren. Sie überlegte, die beiden anzumailen, verwarf den Gedanken aber wieder. Bei E-Mails und Post konnte man nicht sicher sein, wann oder ob sie überhaupt gelesen wurden, und auch nicht, ob man überhaupt eine Antwort bekam. Sophie wollte und konnte nicht warten. Telefonieren kam ebenfalls nicht infrage. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie einfach es war, einen Anrufer abzuwimmeln. All das im Kopf, und nachdem sie einige Zeit mit sich selbst gerungen hatte, beschloss sie, noch einmal nach Küstrow zu fahren – nicht ohne Hintergedanken, einen, den sie fast nicht zu denken wagte. Denn wenn sie einmal dort war, dann konnte sie vielleicht ( vielleicht … ) den netten Zimmermann mit den schönen Augen, dem hübschen Hund und dem alten Landrover anrufen. Und vielleicht würde er sich ja nicht rausreden oder entschuldigen, sondern noch einmal mit ihr essen gehen und sie noch einmal in seinem klapprigen, aber behaglich warmen Auto spazieren fahren. Im Grunde war es der Hintergedanke, der Sophie den entscheidenden Schubs gab. Bis die Kündigung des Vermittlungsvertrags und die Schlüssel ihres Hauses bei ihr ankamen, war im Haushalt ihrer Gastgeber wieder Normalität eingekehrt. Um den kleinen Robert herum hatte sich eine Routine eingespielt. Sabine musste nicht mehr auf einem Kissen sitzen und konnte Mariechen selbst in den Kindergarten bringen.

Sophie packte einen kleinen Rollkoffer, um zum zweiten Mal nach Brandenburg zu fahren.

21 – Am Abend vor ihrer Abreise

bekam sie eine WhatsApp-Nachricht von Jens. Sie hatte damit gerechnet, dass er sich noch einmal bei ihr melden würde, wenn auch vielleicht nur aus organisatorischen Gründen. Schließlich gab es eine gemeinsame Wohnung, und so ziemlich alles, was Sophie besaß, befand sich noch dort. Aber sie erschrak doch, als sie seine Mitteilung entdeckte: Können wir reden? War sie schon wieder stark genug, um sich mit Jens auseinanderzusetzen? Auf jeden Fall war sie nicht vorbereitet. In den drei Wochen mit Sabine, Mariechen und Holger hatte sie geradezu hektisch alles Mögliche getan, aber sich nicht darauf eingestellt, Jens noch einmal gegenüberzutreten. Nun versuchte sie sich auszumalen, was auf sie zukommen würde, wenn sie mit Ja antwortete. Was bedeutete › Können wir reden ‹? Hieß es: › Es tut mir‹ leid oder › Stell dich nicht so an‹ ? Hieß es: › Bitte komm zurück zu mir‹ oder › Wann packst du deine Sachen, ich brauche den Platz‹ ? Was immer es hieß, sie fürchtete sich davor. Von allem, wovon sie nicht wusste, wie es weitergehen würde, war ihr die Zukunft ihrer Beziehung am wenigsten klar. Weder konnte sie weiter bestehen wie bisher, wenn überhaupt … noch war Sophie darauf vorbereitet, als Single zu leben. Sie war zwar ein Einzelkind, aber nie allein gewesen. Erst war sie Mitglied einer Familie, dann Teil eines Paares. Dazwischen gab es nichts. Seit sich ihre Familie aufgelöst hatte, nach dem Tod des Vaters und dem Umzug der Mutter nach Spanien, war ihr Jens in all seiner Unvollkommenheit ein Anker (gewesen), fester Boden unter den Füßen. Nicht, weil er ein guter Partner war, sondern weil er eben da war. Sie hatte sich an ihn gewöhnt. Wenn er sie nun um einen Neuanfang bat – würde sie einwilligen, weil sie an ihn gewöhnt war? Und mit seiner Untreue leben lernen? Warum nicht? Andere Frauen konnten das auch, wahrscheinlich sogar die meisten. Die Alternative dazu war, jedenfalls vorübergehend (hoffentlich nur vorübergehend), ein Singledasein. Das kannte sie zwar nicht, doch es konnte nicht so schwer sein. Zigtausende Frauen in ihrem Alter lebten ungebunden. Es war quasi der Normalfall. Allerdings – Single, ohne Angehörige und arbeitslos und wohnungslos und verschuldet, das war vielleicht eine Spur zu viel Ungebundenheit …

Im Grunde fürchtete Sophie das endgültige Aus ihrer Beziehung ebenso wie die Fortsetzung.

Können wir reden? Sie starrte auf das Display ihres Telefons. Was sollte sie antworten? Nichts? Welche anderen Möglichkeiten hatte sie? Ja. Nein. Was willst du. Nicht jetzt. ›Nicht jetzt‹ gefiel ihr am besten. Es verschaffte ihr Zeit. Es verschob Auseinandersetzungen, die sie nicht führen mochte, und Entscheidungen, die sie nicht treffen konnte oder wollte.

Sophie tippte › Später‹ und drückte ›senden‹.

22 – Als Stadtkind

hatte Sophie ihr ganzes Leben in einem Ballungsgebiet verbracht. Ganz gleich, wo man war oder wohin man ging und fuhr, überall war der Horizont verbaut. Weites und offenes Land wie im nördlichen Brandenburg war sie nicht gewohnt, und daher wirkte die Landschaft stark auf sie. Die endlosen Felder, schwarze Wälder in der Ferne, ein niedriger Horizont und ein hoher, leerer Himmel konnten, besonders im Winter, einem Betrachter eintönig erscheinen; für Sophie hatte die Landschaft etwas Großartiges. Brandenburg, fand sie, war wie gemacht dafür, in Siebzig-Millimeter-Panavision abgefilmt zu werden.

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