»Ist das Mittagessen fertig?«
Mary zuckte erschrocken zusammen. Manfred kam zur Tür herein, geduscht und umgezogen.
»Mist! Die Nudeln!« Sie schüttete die Spaghetti ins vorbereitete Sieb, ließ kaltes Wasser darüber laufen. »Bestimmt sind sie zu weich!«
Manfred trat heran, kostete. »Sie schmecken hervorragend.«
»Schwindler.« Mary seufzte. Mit zittriger Hand vermengte sie die Pasta mit der roten Fleischsoße. Da nahm Manfred ihr den Kochlöffel ab, zog sie in seine Arme.
»Du musst ihm die Formel geben, vielleicht lässt er uns dann in Ruhe«, brach es aus ihr hervor.
»Ich soll mich allen Ernstes von ihm kaufen lassen?!«
»Du unterschätzt ihn.«
Er schob sie eine Armlänge zurück. »Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber Kurt wird weder eine Chance erhalten, sich erneut an dir zu vergehen, noch werde ich es zulassen, dass er uns anderweitige Schwierigkeiten macht.«
»Wie willst du das verhindern? Hast du deine Bedenken mit der heißen Dusche abgewaschen?«
»Die Polizei ist informiert. Es war gut, dass du dich seinerzeit durchgerungen hast, ihn anzuzeigen. Sie haben versprochen, sich gleich der Sache anzunehmen«, sprach er ernst.
»Die Polizei!«, stieß Mary verächtlich aus. »Sie hat ihn damals nicht gefasst, und wird es nun genauso wenig tun. Und wo ist sie, deine Polizei?« Mary trat ans Fenster, blickte hinaus. »Nirgends zu sehen!«
In Manfred drängte ein alter Groll nach oben. »Mir ist der Gedanke zutiefst zuwider, er könnte mit meinen Forschungsergebnissen seinen dunklen Machenschaften nachgehen. Verstehst du das nicht?«
»Kurt hat dir eine Million Euro geboten! Er geht niemals ohne die Formel!«
»Vielleicht war es bloß ein Bluff seinerseits, um mich zu ärgern. Wenn er schlau ist, befindet er sich längst auf den Rückweg nach Nordamerika.«
»Du bist naiv. Deine Lüge, dass du alle Aufzeichnungen zerstört hast, glaubt er dir niemals! Und was ist mit deinem Kollegen – mit Markus? Du hattest von vornherein ein ungutes Gefühl, dass sein Tod ein gewaltsamer war! Oder hältst du es nun doch für möglich, dass er sich selber den goldenen Schuss gesetzt hat?«
»Er war niemals drogenabhängig, trank weder Alkohol noch rauchte er!«
»Siehst du! Und genau deshalb hast du alle Daten vom Rechner gelöscht und die Aufzeichnungen versteckt.«
Manfred ächzte. »Ja, und das ist ein weiterer Grund dafür, weshalb Kurt um keinen Preis die Formel von mir erhalten wird. Höchstens über meine Leiche.«
Mary taumelte entsetzt. Sie stützte sich auf der Arbeitsplatte in der Küche ab.
»Tut mir leid, das war ein blöder Spruch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sei ehrlich zu dir selbst. Wenn du nicht zwischendurch essen, schlafen oder dich kultivieren müsstest, würdest du vierundzwanzig Stunden am Stück im Institut verbringen. Ich verstehe dich, denn niemand hätte erwartet, dass du als Kind die Hodenkrebserkrankung überleben könntest. In deinem Körper befanden sich zahllose Metastasen. Deswegen hast du dich der Forschung verschrieben. Wir – als Familie – kommen erst viel später. Jeder Tag ist für dich wie ein Gewinn, ohne Angst, es könnte irgendwann vorbei sein. Du wirkst im Gegenzug aufs Neue erstaunt, dass es dich nach wie vor gibt.«
Manfred betrachtete Mary. Trotz der harten Worte schaute sie nicht anklagend, sondern eher besorgt aus. Er wusste, dass sie das Liebste beschützen wollte, was sie besaß: die Kinder und ihn.
Er liebte Mary, weil sie ihn verstand, wie kein Mensch jemals zuvor. Sie hatte längst durchschaut, dass er ein Workaholic war, ein Besessener in seinem Tun. Mary unterstützte ihn, wie bei der Erziehung der Kinder, dem Haushalt, den Einkäufen, irgendwelchen Behördengängen … Tausend Dinge, die wie Kleinigkeiten wirkten, aber ohne sie, wäre er in seinen Forschungen nicht dort angelangt, wo er sich gegenwärtig befand.
Ich war vor Jahren so knapp davor, aufzugeben. Mit der Forschung ging es nicht voran, fühlte mich ohne Liebe einsam. Damals, in England, da hatte ich eine tiefe depressive Phase. Ich wollte für ewig verschollen bleiben, der Heimat den Rücken kehren, habe ernsthaft über Suizid nachgedacht. – Mary hat mich aufgeweckt, mir meinen Kampfgeist zurückgegeben. Durch sie hab ich erkannt, dass es an mir liegt, wie ich das Leben gestalte. Mit ihrem Rückhalt sowie der Fürsorge wirkte auf einmal alles so leicht. Ich habe mein Glück gefunden und gelernt, Dankbarkeit zu empfinden!
»Wenn du es hier für zu gefährlich hältst, solltest du mit Sandy ein paar Tage weggehen«, warf Manfred ein. »Entspannt euch in einer Therme, bis wir sicher sind, dass Kurt fort ist, oder die Polizei ihn gefasst hat. Mario befindet sich ohnehin in Graz. Doch ich lasse mich nicht vertreiben, ich bin nicht mehr der kleine Junge, den Kurt einst einschüchtern konnte.«
»Bildest du dir etwa ein, dass er als dein älterer Bruder auf dich Rücksicht nehmen würde?«
Von draußen erklang das Schließen der Haustür. Manfred öffnete den Mund, um seiner Frau zu antworten, aber Mary wehrte ab. »Psst. Wir reden später weiter. Sandy ist da.« Entschieden drückte sie ihn Richtung Esszimmertisch.
»Mhm, Spaghetti!«, rief Sandy voller Begeisterung, als sie schnuppernd ins Esszimmer lief. Sie ließ ihre Schultasche achtlos in eine Ecke plumpsen. »Mein Lieblingsessen! Hey Paps, wie schön, du bist da! Noch dazu unter der Woche.«
»Nimm Platz.« Mary rang sich zu einem Lächeln durch, auch wenn in ihr das vorherige Gespräch nachhallte.
»Ist grad nicht viel los im Institut«, entgegnete Manfred, legte die Zeitung zur Seite, in der er keine Zeile gelesen hatte. »Wir haben nur mehr auf dich gewartet.«
»Nun bin ich ja da.« Hungrig ließ Sandy sich auf dem Stuhl nieder.
Mary stellte den Topf mit Nudeln in der Mitte des Tisches auf einer Korkplatte ab, aus dem sie sich bedienten.
Die gemeinsamen Mahlzeiten gehörten für Sandra zu den Höhepunkten der Woche. Ihr Vater musste oft lange im Institut arbeiten, um seiner Forschertätigkeit nachzugehen, deswegen sah sie ihn meist selten. Am Tisch fehlte ihr achtzehnjähriger Bruder Mario, der mit einem Jura-Studium in Graz begonnen hatte. Er jobbte nebenher als Kellner, um zusätzlich Geld zu verdienen. Somit hatte sich seine Zeit zu Hause drastisch reduziert. Er kam meist nur an den Wochenenden kurz heim.
Zudem gab es einen weiteren Grund für seine Abwesenheit, der war weiblich, blond und langbeinig: ein hübsches Mädchen namens Petra. Erst unlängst hatte Sandra ein Foto von Marios Flamme als Hintergrundbild auf seinem Handy entdeckt.
Bitte, sag vorerst nichts den Eltern. Es ist noch alles ziemlich frisch und neu für mich, hatte er gebeten. Sandy blieb nicht unbemerkt, dass Mario absolut in das Mädchen verschossen war. Seine Augen bekamen einen besonderen Glanz, den sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Sandra lächelte. Sie würde sicher nicht ausplaudern, dass ihr großer Bruder bis über beide Ohren verliebt war, auch wenn es ihr schwerfiel.
»Ich bin im Turnunterricht von allen am weitesten gesprungen«, erzählte Sandy zwischen zwei Bissen. Erwartungsvoll schaute sie ihren Vater an.
»Aha«, brummte der gedankenverloren.
»Hallo, Erde an Vater. Du hörst mir ja gar nicht zu!« Trotzig schob sie die Unterlippe nach vorne.
»Dein Vater hat zurzeit einiges um die Ohren. Sei ihm bitte nicht böse«, griff ihre Mutter besänftigend ein.
»Was nun? Im Institut wohl kaum, sonst wäre er ja nicht daheim. Hat er ja selber gesagt!«, meinte Sandra bockig. Was ist los? Warum sind beide so komisch?
»Entschuldige, mein Kleines.« Manfred suchte den Blick seiner Tochter. »Ich bin sehr stolz auf dich. Es tut mir leid, wenn ich es nicht immer zeige.«
»Schon gut.« Sandy klang versöhnter. Sie aß von ihren Nudeln. Die schmecken heute auch weicher und pampiger als sonst. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann Mama das letzte Mal ein Gericht misslungen ist. Sie kocht normalerweise hervorragend.
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