Ungeduldig pustete sie in ihre Tasse mit Kräutertee. Er würde ihr guttun, aber er war noch viel zu heiß, um ihn zu trinken. Enttäuscht stellte sie die Tasse zurück auf das kleine fahrbare Beistelltischchen, das sie sich an das Sofa herangezogen hatte und ließ sich in die Kissen sinken. Sie war so müde, so schrecklich müde und doch stemmte sie sich mit aller Kraft gegen den Schlaf, der ihren Körper gefangen nehmen wollte. Der ihn schwer wie Blei hinunter in die rabenschwarze Welt ihrer Albträume zu ziehen versuchte.
In diesen Albträumen stand sie am Gitter und schaute zu, wie das Monster zuschlug. Wie es quälte und zerstörte und schließlich tötete. Sie konnte nicht weglaufen, weil ihre Beine ihr den Dienst versagten. Sie wollte die Augen schließen, doch selbst dann hörte sie ja noch die entsetzlichen Schreie, wie von einem Tier. Nichts Menschliches lag mehr darin. Und immer spielte diese Musik, diese fürchterliche Musik, die so laut war, als müsse sie das, was geschah, überstrahlen, als könne sie es ungeschehen machen, wenn sie nur laut genug spielte. Als wäre alles nur ein großes Fest zu Ehren des Bösen, als wären alle gekommen, um seiner Zerstörungswut zu huldigen … und sie war mittendrin, gefangen in ihren eigenen Wünschen und Gedanken, von ihrer eigenen Hoffnung auf Gerechtigkeit, gefangen in ihrer Verletztheit und ihrer großen, großen Angst.
Sie sackte noch tiefer in die Kissen. Nur kurz ihren Kopf anlehnen, nur kurz die Augen schließen, auch wenn sie auf keinen Fall einschlafen durfte. Ihre Muskeln schmerzten wie nach einem langen Fieber. Sie fühlte sich so matt, und doch wusste sie, dass es kein Fieber war. Nie wieder wollte sie die Augen schließen, nie wieder in Ruhe schlafen. Sie war zur Komplizin eines Monsters geworden, ohne die Kraft sich ihm zu entziehen. Warum nur hatte sie in diesen Strudel aus Lüge und Betrug, aus Hass und Vergeltung geraten müssen? Warum nur hatte er ihr das alles angetan?
Kaum hatten Franziska und Hannes Vanessa Auerbachs Wohnung betreten, lächelte ihnen die ehemalige Bewohnerin in einem enganliegenden Abendkleid von einem großformatigen Foto sehr selbstbewusst entgegen.
„Für Inszenierungen hatte sie also schon mal was übrig“, kommentierte Franziska das Hochglanzplakat gegenüber der Eingangstür und warf Hannes einen fragenden Blick zu. „Hübsches Mädchen, selbstbewusst und eine eigene Wohnung. Warum hat sie sich bloß auf so einen Fessel-Scheiß eingelassen?“
Hannes zuckte die Schultern, wandte sich ab, öffnete die Tür zur Küche und tastete mit den Händen nach dem Lichtschalter.
Nachdem Hauptkommissar Schneidlinger mit Nachdruck dafür gesorgt hatte, dass die Studentenkanzlei, bei der alle Studierenden der Passauer Uni registriert sind, so spät am Abend nochmals besetzt worden war, war es eine Kleinigkeit gewesen, die Adresse der Toten herauszufinden. Mithilfe des bei ihr gefundenen Schlüssels hatten sie nach zweimaligem Klingeln – für den Fall, dass sie nicht allein lebte – die Wohnung im Klosterwinkel geöffnet.
„Hier ist es fast klinisch sauber“, kommentierte Hannes die Kücheneinrichtung. Er zog einige Schubladen auf und inspizierte den Inhalt des Kühlschrankes. „Es gibt weder Wurst noch Bier. So wie es hier aussieht, hat sie sich von Joghurt ernährt.“
Franziska nickte und ging vor ihm her ins Wohnzimmer. Es war nicht besonders groß und unspektakulär möbliert: ein Sofa, eine Anrichte, ein kleiner Esstisch mit vier Stühlen, Bücherregal, Fernseher. Vor dem Fenster hingen Raffrollos in leuchtenden Farben. Franziska zog sie hoch, was den Blick auf den nächtlichen Inn und das auf der anderen Seite liegende, hoch aufragende und sehr schön beleuchtete Kloster Maria Hilf freigab.
„Wahnsinn, was für ein Ausblick“, bemerkte sie und wandte sich vom Fenster ab, um das Regal zu durchsuchen. Da gab es einige Lehrbücher, Ordner, eine Box mit Stiften, Bücher und CDs. Gleich daneben hingen einige Gruppenaufnahmen an einer Pinnwand, wie sie zum Ende der Schulzeit oder ähnlichen Anlässen gern gemacht wurden.
„Kein Foto von einem Mann, aber die hier sind immerhin ein Anfang“, versuchte sich Franziska zu freuen.
„Vielleicht war die Beziehung noch zu neu. Ich meine, wie lange hast du kein Foto von deinem Bühnenkünstler auf dem Schreibtisch stehen gehabt?“
„Hab ich noch immer nicht. Wir teilen unser Büro einzig mit deiner Sabrina“, gab sie schnippischer als gewollt zurück und wandte sich, als sie es bemerkte, rasch dem Tisch zu, der offensichtlich gleichermaßen zum Essen und Lernen genutzt wurde. Neben einer gut gefüllten Obstschale stand dort ein Laptop, der, wie Hannes jetzt feststellen musste, mit einem Passwort geschützt war. Insgesamt fanden die Kommissare alles sehr ordentlich, bis sie ins Schlafzimmer kamen.
„Ups!“ Überrascht hielt Franziska inne. Vor ihren Augen breitete sich das totale Chaos aus. Auf dem großen Bett und dem hellen Holzboden lagen mehrere Blusen, T-Shirts, Hosen, zwei Kleidchen und etliche winzige Dessous verstreut. „Ich würde sagen, hier hat sich jemand nicht entscheiden können.“ Vorsichtig lugte sie in die offenstehenden Türen des Kleiderschranks und zog dann eine enttäuschte Schnute. Denn außer weiteren Klamotten, verschiedenen Schuhen und zwei Handtaschen, die Franziska herausnahm und öffnete, fand sich auch hier kein Hinweis auf einen Mann. „Schade! Ich hab schon gehofft, hier ihr geheimes Lager zu entdecken, wo sie alles bunkert, was Besuchern verborgen bleiben soll“, erklärte sie ihre Enttäuschung.
Hannes trat hinzu, hob einen der am Boden liegenden Büstenhalter auf, wog ihn in der Hand und meinte dann nachdenklich: „Eher Durchschnitt.“
„Ja“, antwortete Franziska, beachtete das billige Spitzengewebe aber nicht weiter. „Wie sieht es im Bad aus?“
„Nichts. Kein Rasierzeug, keine zweite Zahnbürste, kein Schlafanzug.“ Vorsichtig legte er den Büstenhalter aufs Bett zurück. „Vielleicht hat er ja ihre Sachen benutzt?“
„Machst du das?“ Sie blickte Hannes abwartend an, und als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Das heißt, sie lebte allein, und ob sie eine Beziehung führte, wissen wir nicht.“ Suchend blickte sie sich um und landete schließlich wieder im Wohnzimmer vor den Gruppenbildern, auf denen Vanessa immer in der ersten Reihe stand. „Mensch Mädchen! Wenn wir das Schwein finden sollen, musst du uns schon was über dein Liebesleben preisgeben.“ Sie nahm die Fotos von der Pinnwand und blickte sich suchend nach einem Umschlag zum Verstauen um.
„Hey, hast du das schon gesehen, da hinten steht was drauf!“ Hannes nahm ihr eines der Fotos aus der Hand und drehte es so, dass er es lesen konnte. „Comenius-Gymnasium Deggendorf K12“.
Während Hannes las, nahm sich Franziska das Regal vor. „Schade, sie stand anscheinend nur auf Fantasy-Bücher. Dabei hatte ich gehofft, sie wäre eine SM-Anhängerin gewesen und würde uns vielleicht damit einen Hinweis geben.“ Franziska zuckte enttäuscht mit den Schultern. „Aber zumindest wissen wir jetzt eines ganz sicher: Wenn es einen Mann in ihrem Leben gegeben hat, dann hat sie ihn ziemlich gut versteckt.“
„Also eine typische Studentenwohnung, die nichts über die wahren Vorlieben ihrer Besitzerin aussagt“, kommentierte Hannes, doch das wollte seine Kollegin nicht gelten lassen.
„Das stimmt doch gar nicht.“ Sie blickte auf ihr Handy, um zu sehen wie spät es war und entdeckte eine SMS von Walter, die sie sich aber nicht zu lesen traute. „Wir haben die Fotos und können uns den Laptop vornehmen. Und …“, sie grinste, während sie ein mit dem Uni-Logo versehenes Blatt aus einem Buch zog, „… wir haben das hier!“
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