So stieg sie jetzt mit Sneakers, Jeans, T-Shirt und einem Leinenblazer bekleidet aus ihrem Auto, das sie schließlich neben den Fahrzeugen der KTU abgestellt hatte und wappnete sich innerlich für das, was sie gleich in Augenschein nehmen sollte. „Mach dich auf einiges gefasst!“, hatte Hannes noch hinzugefügt, nachdem er ihr den rückseitigen Ausgang der Zentralbibliothek genannt hatte. So ließ Franziska auch den Haupteingang des Gebäudes unbeachtet liegen und umrundete den hellgestrichenen Bau, bis sie auf Obermüller stieß, der gemeinsam mit einigen Kollegen am Flatterband wartete. Der sonst so robuste Ermittler war grau im Gesicht und wirkte mitgenommen.
„Hallo Obermüller, gibt es schon Erkenntnisse?“ Noch versuchte sie ihrem Tonfall etwas Heiteres zu verpassen. Der Wunsch, egal wie schlimm es kommen konnte, nicht zu viel an sich heranzulassen, lag nahe.
„Ich würde sagen, sie hat sich mit dem falschen Kerl eingelassen.“
„Ich wollte von dir wissen, was du weißt und nicht was du vermutest“, wies ihn Franziska sanft zurecht.
„Georg Brummer, einer der Bibliothekare, hat die Leiche gefunden. Sie liegt in“, Obermüller blickte auf einen Zettel, den er in der Hand hielt, „einem Dublettenmagazin. Das grenzt direkt an das eigentliche Büchermagazin der Uni an, ist aber ein abgeschlossener Raum mit einer Tür nach draußen in Richtung Inn.“
Die Oberkommissarin nickte. „Weißt du sonst noch was, Obermüller?“
„Ja, also: Der Raum hat ursprünglich das Archiv der Universität beherbergt. Das zog dann nach Fertigstellung des Verwaltungsgebäudes dorthin um. Nachdem das Archiv frei war, wurde es kurzzeitig als Sozialraum für die Mitarbeiter des Magazindienstes genutzt, bis auch dafür entsprechende Räumlichkeiten eingerichtet wurden. Aktuell lagern dort Buch- und Zeitschriftenbestände, die in nächster Zeit ausgemistet werden sollen, weil es sich um Zweit- und Drittexemplare handelt.“
„Aha, und wer hat dich derart umfangreich informiert?“, hakte Franziska interessiert nach.
„Georg Brummer, er ist einer der Bibliothekare, die das alles sichten, eventuelle Schätze vor dem Untergang retten und alles andere der Vernichtung zuführen müssen.“ Der dicke Ermittler lächelte schief. „Ich hatte den Eindruck, als täte es ihm um diese alten staubigen Bücher mehr leid, als um die junge Frau.“
„Du meinst …“
Abwehrend hob Obermüller die Hände. „Nein, nicht dass ich ihm die Tat anhängen will, aber mir scheint, Bücher sind seine große Leidenschaft. Er ist übrigens Volkskundler … ja und normalerweise wird der Raum nur selten genutzt …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern.
„Okay! Wo muss ich hin?“
„Immer dem Rundweg folgen, dann findest du es.“
„Ist der Chef auch schon da?“
„Ja, er hat die Uni-Präsidentin aus dem Bett geklingelt“, berichtete Obermüller sachlich. „Und dein Lieblings-Notarzt schaut sich das Opfer gerade an. Vielleicht kann er dir ja schon mehr sagen.“
Franziska nickte. „Der gute Dr. Buchner!“ Sie musste lächeln. Obwohl sie sich nur an Tatorten trafen, war zwischen dem gütigen Mediziner, der seine ruhige Art auch bei heftigen Fällen niemals ablegte, und ihr so etwas wie eine Freundschaft entstanden. Auch wenn er sich nie zu vorschnellen Aussagen verleiten ließ, konnte sie ihm meist etwas entlocken. Aber noch wichtiger war, dass sie ihm vertraute, weil er wusste, wie wichtig seine erste Einschätzung war.
Als sie das grüne Gittertor erreicht hatte, warf sie einen letzten Blick in den abendlichen und fast wolkenlosen Himmel, holte tief Luft und ging hinein. Die Tür zum Dublettenmagazin stand weit offen und gab den Blick auf einen Raum mit grauen, schäbigen Metallregalen und einem eben solchen PVC-Bodenbelag frei. In den Regalen lagerten die von Obermüller beschriebenen Bücher und Zeitschriften. In einer Ecke standen ein paar kaputte Stühle, platzsparend aufgestapelt. Aufgeschlitzte Kissen lagen auf einem Tisch. Die Oberkommissarin entdeckte Schachteln mit undefinierbarem Inhalt, kaputte Plakataufsteller, verbogene Buchstützen und über all dem strahlten Neonröhren, von denen die Spinnweben herunter hingen.
Franziska blickte zu Dr. Buchner in seinem roten Anorak. Der Notarzt untersuchte eine junge Frau, deren schlanker Körper mit einigen schwarzen Stofffetzen eher umwickelt als bekleidet war. „Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten“, erklärte er gerade, woraufhin die Kommissarin näher trat und sich über den Hals und das arg zugerichtete Gesicht des Opfers beugte, das von unzähligen Wunden entstellt war. Franziska hatte schon einiges gesehen, dennoch sog sie scharf die Luft ein, als sie auf die junge Frau hinunter blickte. Die blutunterlaufene Haut und die zugeschwollenen Augen zeugten ebenso wie die Wunden, Striemen und Blutergüsse, mit denen ihr gesamter Körper überzogen war, von einem schlimmen Martyrium.
Die Tote lag auf der linken Seite, der Kopf ein wenig überstreckt in einer Blutlache, die langen blutgetränkten Haare nach oben gezogen, als ob sie daran festgehalten worden wäre. Ihre Arme lagen vor ihrem Körper, die Handgelenke wiesen dunkle Vertrocknungsspuren auf, was darauf hindeutete, dass sie vor ihrem Tod über einen langen Zeitraum gefesselt gewesen sein mussten. Die Beine lagen ausgestreckt auf dem staubigen Boden. An den Fußgelenken befanden sich die gleichen vertrockneten Fesselspuren wie an den Handgelenken.
Annemarie Michel, die Leiterin der Kriminaltechnik, stand neben Buchner und reichte Franziska ein Paar Latexhandschuhe für den Fall, dass sie die Tote inspizieren wollte.
„Hat sie versucht sich zu wehren?“, fragte die Oberkommissarin ihre ältere Kollegin, denn sie war sich sicher, dass Annemarie bereits alles in Augenschein genommen hatte.
Die Chefin der KTU beugte sich hinunter und ergriff die rechte Hand der Toten. „Entweder kam sie nicht mehr dazu, bevor sie gefesselt wurde“, Annemarie blickte Franziska nachdenklich an, „oder sie wollte sich gar nicht wehren. Fingernägel und Zähne sind jedenfalls intakt.“
„Du denkst an einvernehmlichen Sex? Prostitution oder ein ausuferndes Liebesspiel?“
Annemarie zuckte mit den Schultern. „Seit scheinbar alle Welt Gefallen an Sado-Maso-Spielchen entdeckt hat … wer weiß?“
„Ja gut“, räumte Franziska ein und dachte kurz an ihre eigene Vorstellung von Liebesspielen. „Aber solche Spiele haben doch ihre Grenzen, da gibt es feste Regeln und an die hat man sich zu halten. Und bestimmt gehört dazu nicht, sich ohne Gegenwehr die Kehle durchschneiden zu lassen.“
„Natürlich nicht!“ Annemarie erhob sich und gab damit den Blick auf den Boden rund um die Beine der Toten frei. „Aber siehst du die Staubschicht? Sie hat noch nicht einmal gezappelt, als er das Messer ansetzte.“
„Dann war sie vielleicht schon tot, als er ihr die Kehle durchschnitt?“
„Nein!“ Energisch mischte sich Buchner in die Spekulationen ein und lenkte damit den Blick wieder auf den Kopf der Toten. „Um so viel Blut aus dem Körper zu befördern, muss das Herz schon noch tüchtig pumpen. Und dass es den Körper noch ordentlich leergepumpt hat, zeigt sich wiederum an den nur sehr spärlich vorhandenen Leichenflecken.“
Franziska nickte. „Ja klar. Mein Fehler.“
Buchner schenkte ihr ein Lächeln. „Ich will mich nicht festlegen, das …“
„… können die Kollegen in München besser beurteilen!“ Auch Franziska lächelte über diese Routineaussagen.
„Sie könnte zu diesem Zeitpunkt einfach aufgegeben haben. Ich meine, so wie sie zugerichtet ist, war das keine Sache von fünf Minuten.“
„Wurde sie vergewaltigt?“
„Genau kann ich das nicht sagen. Fakt ist, dass sie im Genitalbereich schwer verletzt wurde. Ob nur äußerlich oder auch innerlich …“ Der Mediziner zuckte mit den Schultern.
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